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    Swiss Army Man
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Swiss Army Man
    Von Christoph Petersen

    Ein Hit oder ein Flop? Eine Überraschung oder eine Enttäuschung? Die Geschichte eines Films ist heutzutage – vor allem „dank“ Facebook, Twitter & Co. - meist schon wenige Minuten nach der ersten Aufführung geschrieben. Und so ist „Swiss Army Man“ nun eben der Film mit der furzenden Leiche, aus dem bei der ausverkauften Premiere auf dem Sundance Filmfestival 2016 die Zuschauer in Massen rausgerannt sind. Aber nachdem wir den Film des Künstler-Duos daniels (Dan Kwan & Daniel Scheinert) nun auch selbst gesehen haben, fragen wir uns ehrlich, was zum Teufel die Flüchtenden da bloß geritten hat. Ist ein modernes Festivalpublikum wirklich so pikiert, nur weil „Harry Potter“-Star Daniel Radcliffe die ganze Zeit über in der Gegend herumpupst? Denn abgesehen von den ständigen Flatulenzen ist „Swiss Army Man“ eine zwar zugegebenermaßen völlig abgefahrene, aber dabei dennoch wunderbar warmherzige und unbedingt entdeckenswerte Tragikomödie über Einsamkeit, Freundschaft und die menschliche Phantasie als Zufluchtsort für verlorene Seelen.

    Der einsam gestrandete Hank (Paul Dano, „There Will Be Blood“) hat bereits jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben und will sich gerade selbst umbringen, als er am Strand einen angespülten Körper erspäht. Dass der von Hank auf den Namen Manny (Daniel Radcliffe, „Victor Frankenstein – Genie und Wahnsinn“) getaufte junge Mann bereits tot ist, erweist sich dabei nur als kurzzeitiger Rückschlag, denn die Leiche lässt sich - vergleichbar mit einem Schweizer Taschenmesser, daher auch der Titel - überraschend vielseitig einsetzen. So nutzt Hank zum Beispiel das ständige Gefurze des Toten (in seinen Gedärmen verwest halt noch so einiges) als Antrieb, um auf der Leiche wie auf einem Jetski über das Meer zu rasen. Aber Manny taugt nicht nur als Motorboot, sondern auch als Wasserspender, Maschinengewehr und sogar als Kompass, wenn sein erigierter Penis nach dem Zeigen eines Fotos den Weg nach Hause zu Hanks heimlicher Liebe Sarah (Mary Elizabeth Winstead) anzeigt…

    Selbst wenn Manny nach und nach immer mehr absonderliche Fähigkeiten offenbart (und irgendwann auch langsam zu sprechen beginnt), machen diese absurd-surrealen Einschübe zwar sicherlich das gewisse Extra aus, sind aber nicht das eigentliche Zentrum des Films – bis zur Jetskifahrt auf der Leiche, die in einer herkömmlicheren Produktion sicherlich auch als großes Finale gut funktioniert hätte, dauert es in „Swiss Army Man“ zum Beispiel gerade einmal fünf Minuten. Stattdessen entwickelt sich der Ton in eine ganz andere Richtung: Wie der Film kaum merklich die Kurve von der profanen Furzende-Leiche-Kuriosität zur zutiefst menschlichen, nachdenklich stimmenden Tragikomödie nimmt, hat etwas ganz und gar Selbstverständliches an sich – und das, obwohl das aus dem Musikvideo-, Werbe- und Kurzfilmsektor* stammende daniels-Duo mit „Swiss Army Man“ tatsächlich erst sein Langfilmdebüt gibt.

    Natürlich fragt sich der Zuschauer die ganze Zeit, ob Hank da nun wirklich auf eine universell einsetzbare Taschenmesser-Leiche gestoßen ist, oder ob sich das nicht alles doch nur in seinem Kopf abspielt (keine Angst, die Auflösung ist gut gelungen). Dass die Gespräche zwischen Hank und seinem toten neuen Freund über den Sinn des Lebens, die Liebe und „Jurassic Park“ aber trotz der absurden Situation voller kleiner wahrhaftiger Momente stecken, hat auch viel mit den beiden Hauptdarstellern zu tun, die sich voll auf das Szenario einlassen und ihre Parts ohne den geringsten Anschein von Ironie oder den kleinsten Funken Angst um das eigene Image verkörpern (selbst wenn Radcliffe später bei der Marketingtour dann noch eine Menge Spaß mit seiner Rolle gehabt hat). „Swiss Army Man“ ist ein Wagnis für sämtliche Beteiligten (einschließlich der Kinobesucher), das sich letztlich aber auch für alle auszahlt. Es sei denn natürlich, man verlässt wie die Sundance-Flüchtenden vorzeitig den Saal, um als erster twittern zu können, dass Harry Potter die ganze Zeit nur herumpupst. Aber der Film ist tatsächlich auch für Zuschauer gedacht, die ein bisschen reifer sind als das.

    Fazit: Ein waschechtes Kino-Unikat.

    * Die Kurzfilme von Dan Kwan & Daniel Scheinert sind übrigens kaum weniger abgedreht als „Swiss Army Man“. Beispiel gefällig:

    Tides of the Heart from DANIELS on Vimeo.

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