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    Der Klavierspieler vom Gare du Nord
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der Klavierspieler vom Gare du Nord

    „Ziemlich beste Freunde“ am Klavier

    Von Sascha Westphal

    Geschmacksverstärker werden natürlich ausschließlich in Lebensmitteln verwandt. Trotzdem sind sie nicht nur in der Küche oder auf dem Wohnzimmertisch in Form von Knabbereien zu finden. Auch im Kino gehören sie zum täglichen Brot. Allerdings werden sie dort meist mit dem Label „Filmmusik“ versehen. Will ein Regisseur die Wirkung einer Szene verstärken, wendet er sich mit großer Sicherheit an den Komponisten des Scores. Ein paar Streicher oder auch ein Klavier wirken schnell Wunder, wenn es um die Atmosphäre einer Szene geht. Nicht zufällig werden Schreckmomente meist von entsprechenden musikalischen Effekten begleitet. Aber auch in weniger aufgeladenen Situationen kommt der Musik in Filmen oft eine illustrierende, um nicht zu sagen manipulierende Funktion zu.

    Das gilt selbst für Produktionen wie „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ oder „Wie im Himmel“, in denen die Musik im Zentrum der Filmerzählung steht. Auch ihre Schöpfer setzen bewusst auf die emotionale Kraft einer Komposition oder eines Chors und lenken so die Empfindungen und Reaktionen des Publikums im Saal. Dieser Tradition kann sich auch der französische Regisseur und Drehbuchautor Ludovic Bernard mit seinem Drama „Der Klavierspieler vom Gare du Nord“ nicht gänzlich entziehen. Auch er steuert über die Musik bewusst Emotionen, aber zugleich lässt er ihr den Raum sich ganz zu entfalten und sich von den Zwängen der Illustrierung zu befreien.

    Eigentlich hätten sich die Wege von Pierre Geithner (Lambert Wilson) und Mathieu Malinski (Jules Benchetrit) nie kreuzen dürfen. Der Leiter des Pariser Konservatoriums und der junge Mann aus einer Banlieue leben in entgegengesetzten Welten. Doch der Zufall will es, dass Geithner Zeuge wird, wie Mathieu auf einem öffentlichen Klavier im Gare du Nord ein Stück von Bach spielt. Gerade als er ihn ansprechen will, kommen einige Polizisten dazu und zwingen Mathieu zur Flucht. Wochen später begegnen sich die beiden ein zweites Mal im hektischen Treiben des Bahnhofs. Diesmal gelingt es Geithner, Mathieu anzusprechen und ihm seine Visitenkarte zu geben. Als er nach einem Einbruch in eine Villa vor Gericht landet, wendet er sich an den Leiter des Konservatoriums, der seinen Einfluss nutzt, so dass Mathieu nur zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt wird. Fortan muss der junge Mann als Reinigungskraft im Konservatorium arbeiten. Diese Situation nutzt Geithner, der Mathieu für ein Ausnahmetalent hält, um ihn zu Unterrichtsstunden bei der Gräfin (Kristin Scott Thomas) zu bewegen und ihn schließlich für einen internationalen Klavierwettbewerb anzumelden.

    Klischees mit viel Understatement

    Vordergründig erzählt „Der Klavierspieler vom Gare du Nord“ eine recht klischeehafte Geschichte von einem jungen, begabten Mann, der aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommend seinen Weg in eine andere Welt findet. Nach diesem Muster funktionieren nicht nur viele Künstlerbiographien. Selbst ein Film wie „Ziemlich beste Freunde“ bedient letztlich ähnliche Mechanismen. Und gelegentlich drängt sich tatsächlich der Verdacht auf, dass Ludovic Bernard auf den Erfolg schielt, den Olivier Nakache und Éric Toledano mit ihrem bittersüßen Sozialmärchen verbuchen konnten. Gerade in den Szenen zwischen Mathieu und Geithner bedient Bernard die typischen Vorstellungen davon, wie sich soziale Unterschiede im Alltag manifestieren.

    Lambert Wilson (links) und Jules Benchetrit spielen in "Der Klavierspieler vom Gare du Nord" Lehrer und Schüler.

    Während Geithner meist in teueren Restaurants speist, bevorzugt Mathieu den Kebab-Stand um die Ecke. Und natürlich wird das Leben in der Vorstadt von Arbeitslosigkeit und Kleinkriminalität geprägt. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob diese Klischees auf tatsächlichen Verhältnissen basieren und eine gewisse Wahrheit beinhalten. Bernard zitiert einfach Kinokonventionen, die so immer weiter reproduziert werden. Allerdings setzt er sie mit einem angenehmen Understatement in Szene. Manche Klischees lassen sich im Kontext einer melodramatischen Filmerzählung kaum vermeiden. Also nehmen Bernard und sein Ensemble ihnen das Pathos, das sie sonst so oft umweht. Lambert Wilson und Kristin Scott Thomas, die zunächst wie die Karikatur einer strengen Klavierlehrerin wirkt, unterlaufen durch ihr minimalistisches Spiel alle Vorurteile. Scott Thomas’ Gräfin taut zwar erst im Umgang mit Mathieu auf. Aber sie stellt diese graduelle Veränderung niemals aus, sondern deutet sie nur in kleinen Gesten und dahin geworfenen Bemerkungen an. Aus dieser Zurückhaltung entwickelt sich eine „natürliche“ Emotionalität, die tiefer rührt als jede offensichtliche Melodramatik. Selbst das arg konstruierte Finale, das mit seiner „In-letzter-Sekunde-Dramatik“ eigentlich weit über das Ziel hinausschießt, können Kristin Scott Thomas, Lambert Wilson und Jules Benchetrit so noch erden.

    Magie durch präzisen Einsatz der Musik

    So eindrucksvoll die darstellerischen Leistungen seines Ensembles auch sind, was Bernards Film letztlich von ähnlich gelagerten Produktionen absetzt, ist sein sensibler und ungeheuer präziser Umgang mit der Musik. Die einzelnen Stücke, die Mathieu im Lauf der Handlung spielt, spiegeln nicht nur seine Gefühle und Situation wieder. Sie entwickeln auch aufgrund der unterschiedlichen Instrumente, auf denen sie gespielt werden, ein eigenes Leben. Der etwas weichere Klang des Bechstein-Flügels, an den sich Mathieu während eines Einbruchs setzt, passt perfekt zu Chopin, während der Steinway, an dem er im Konservatorium arbeitet, das Filigrane von Liszts Komposition betont.

    Fazit: Ludovic Bernard erzählt zwar eine konventionelle Geschichte von einem genialen Pianisten, der die Fesseln seiner Herkunft überwinden muss. Aber die Sorgfalt, mit der er die Musik in Szene setzt, hebt „Der Klavierspieler vom Gare du Nord“ über die Masse der Musikfilme und Sozialdramen hinaus.

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