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    Burning
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Burning
    Von Carsten Baumgardt

    2016 animierte Maren Ades grandiose Tragikomödie „Toni Erdmann“ das Filmfestival von Cannes die anwesenden Filmkritiker zu wahren Jubelstürmen – was zugleich auch einen neuen Rekord im Kritikerspiegel der Fachzeitschrift Screen Daily zur Folge hatte: Noch nie wurde darin ein Film im Wettbewerb von Cannes besser bewertet. Umso größer war die Negativüberraschung bei der Preisverleihung, als „Toni Erdmann“ sensationell leer ausging. Kein Ruhmesblatt für Jurypräsident George Miller („Mad Max“) und seine Mitjuroren. 2018 gab’s dasselbe Spiel nun noch einmal – und diesmal darf es sich Cate Blanchett als Jury-Präsidentin auf die Fahnen schreiben.

    Lee Chang-dongs „Burning“ durchlief nämlich exakt dieselben Stationen wie zwei Jahre zuvor „Toni Erdmann“: Hymnische Kritiken, der stärkste Wert, der jemals im Screen-Daily-Kritikerspiegel erreicht wurde – und die komplette Missachtung der Cannes-Jury. Ach ja, beide Filme haben auch noch den gleichen Trostpreis gewonnen: den FIPRESCI-Award der internationalen Filmkritik. Eine ärgerliche Entscheidung, denn Lee Chang-dongs mysteriöser psychologischer Thriller ist ein phänomenaler Slow-Burner, dessen ganze Wucht und Kraft sich erst langsam entwickelt, bis der Zuschauer sich diesem atmosphärischen Sog endgültig nicht mehr widersetzen kann. Lee erzählt eine mitreißende Dreiecksgeschichte vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Ungleichheit in der südkoreanischen Gesellschaft, die immer noch von einem nur offiziell abgeschafften Kastensystem geprägt ist. Ein Meisterwerk, das bis lange nach dem Abspann nachwirkt.

    Der Mittzwanziger Jong-soo (Yoo Ah-in) hält sich in der südkoreanischen Stadt Paju nahe der entmilitarisierten Zone an der Grenze zu Nordkorea mit Auslieferungsjobs über Wasser, während er eigentlich viel lieber an einem Roman schreiben würde. Als er durch Zufall seine ehemalige Klassenkameradin Hae-mi (Jeon Jong-seo) trifft, freunden sich die beiden wieder an und landen gemeinsam im Bett. Aber für eine Beziehung bleibt erstmal keine Zeit, da Hae-mi in den nächsten Tagen nach Kenia reist. Sie bittet Jong-soo, einmal am Tag ihre Katze in ihrem kleinen Apartment zu füttern – was er auch gewissenhaft erledigt. Die Freude über Hae-mis Rückkehr aus Afrika ist dann allerdings getrübt, denn am Flughafen steht sie plötzlich mit Ben (Steven Yeun), einem reichen Yuppie aus dem nahegelegenen Seoul, den sie auf ihrer Reise kennengelernt hat. In der Folge unternimmt das Trio immer wieder Dinge gemeinsam, während Hae-mi und Ben sich immer näher zu kommen scheinen und Jong-soo sich auf die ländliche Farm seines streitbaren Vaters zurückzieht, der mal wieder wegen eines Ausrasters im Gefängnis gelandet ist...

    „Burning“ basiert auf der nur zehn Seiten umfassenden Kurzgeschichte „Barn Burning“ von Haruki Murakami. Daraus hat Lee Chang-dong einen zweieinhalbstündigen Film gemacht - seinen ersten seit acht Jahren, als „Poetry“ in Cannes für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. Die sogartige Faszination des Thriller-Dramas entfaltet sich dabei auf mehreren Ebenen parallel – beginnend bei den drei Hauptfiguren. Die ziehen jede auf ihre Weise in den Bann - und trotz des gemächlichen Erzähltempos entwickeln sie eine ungeheure Dynamik. Es wird nur ganz unterschwellig angedeutet, dass hier etwas nicht stimmt und wie sich hier Wut und Ärger gefährlich aufstauen, bis irgendwann eine kritische Masse erreicht ist. Die ersten zwei Stunden kann man sich noch nicht mal sicher sein, welchem Genre „Burning“ eigentlich angehört.

    Der Protagonist Jong-soo kommt aus der Arbeiterklasse, ist gebildet, intelligent, bleibt aber trotz Studiums hinter seinen Möglichkeiten zurück und verdingt sich als Lieferant und Bauer, während er nicht wagt, herauszufinden, ob er tatsächlich das Zeug zum Schriftsteller hat. Das spielt Yoo Ah-in („Veteran – Above The Law“) mit einer Mischung aus zaghaftem Selbstbewusstsein und selbst in unangebrachten Momenten höflicher Zurückhaltung, die viel mit den sozialen Normen zu tun hat, die fest in seinem Kopf verankert sind. Es scheint immer wieder eine verborgene Traurigkeit durch, während er versucht, seinen schwelenden Neid auf Ben zu unterdrücken.

    Der steinreiche Lebemann Ben ist das genaue Gegenteil von Jong-soo, eine Art südkoreanischer Variante von Patricia Highsmiths Dickie Greenleaf aus „Der talentierte Mr. Ripley“. Es ist eine große Qualität von „Burning“, dass er nicht zum klischeehaften Großkotz aufgebaut wird, stattdessen tritt seine Arroganz hinter seinem sympathisch-höflichen Auftreten und seinem ehrlichen Interesse für Jong-soo und Hae-mi zurück – dazu kommt das überragende Charisma von „The Walking Dead“-Star Steven Yeun. Ben hat seine exponierte Stellung in der Gesellschaft so sehr verinnerlicht, dass er keinerlei Selbstzweifel hegt und seinen „Rivalen“ Jong-soo kaum als solchen wahrnimmt, weil es für ihn sowieso klar ist, wer gewinnen wird. Man trifft sich scheinbar zwangslos in Bars, Restaurants oder Bens Luxusapartment, quatscht, kifft, hat Spaß – aber über jedem Treffen liegt zugleich eine intensive unausgesprochene Spannung.

    Das Objekt der Begierde, die impulsive Hae-mi, ist mit ihrem lebhaften Optimismus der Antrieb und die tragische Figur der Geschichte. Die charismatische Newcomerin Jeon Jong-seo verkörpert sie als moralisch flexiblen Freigeist, der sich selbst an erster Stelle sieht. Vielleicht ist es böswillig, ihr zu unterstellen, sie hat nur mit ihrem alten Schulkameraden Jong-soo geschlafen, um schnell einen gewissenhaften Aufpasser für ihre Katze zu finden - aber denkbar ist das bei ihrem sprunghaften Charakter schon. Aber ihre natürliche Anziehung auf die beiden Männer ist unwiderstehlich.

    Lee Chang-dongs Werke sind immer von großer erzählerischer Ambition geprägt, da mutet „Burning“ im Vergleich fast schon besonders zugänglich an, weil sich eben sehr wohl auch klassische Motive eines psychologischen Thrillers erkennen lassen. Über all den sozialen und gesellschaftlichen Beobachtungen schwebt die Atmosphäre eines Mysteryfilms, der von den grandiosen, poetisch-melancholischen Bildern von Kameramann Hong Kyung-pyo („Snowpiercer“, „The Wailing“) getragen wird. In der schönsten Sequenz des Films kommen Ben und Hae-mi im Sportflitzer auf Jong-soos Bauernhof angerauscht. Sie reden, trinken, Hae-mi tanzt bei aufziehendem Sonnenuntergang bekifft zu Miles Davis. In diese euphorische Stimmung mischen sich mit schwindendem Licht Hae-mis Tränen, die einen Bruch im Film ankündigen. Wenig später verschwindet sie einfach – ein Abschied, der zugleich auch den Film aus seinen Angeln zu reißen scheint.

    Als Zuschauer kann man sich nie sicher sein, was tatsächlich passiert ist, weil der Film sich bis kurz vor Schluss seine konsequente Rätselhaftigkeit bewahrt. Hae-mis Katze? Gibt es die überhaupt oder ist sie ein Mythos? Oder Hae-mi selbst? Und was ist mit ihr geschehen? Ist sie einfach abgehauen? Hat Ben sie umgebracht? Und wenn ja, warum? Was hat es mit Bens schrägem Hobby auf sich, leerstehende alte Gewächshäuser in Flammen aufgehen zu lassen? Auf diese stets im Hintergrund mitschwingenden Mysterien, die „Burning“ befeuern, gibt Lee Chang-dong keine eindeutige Antwort – jeder Zuschauer darf seine eigene Interpretation anstellen. Trotzdem beendet der Regisseur „Burning“ mit der größtmöglichen Klarheit und Radikalität.

    Fazit: Lee Chang-dongs herausragend gespieltes Mystery-Meisterwerk „Burning“ ist ein mitreißend zurückgenommen erzählter Psycho-Thriller über Neid, Klassenunterschiede und Rache, bei dem man erst nach gut zwei Stunden überhaupt durchschaut, was für eine Art von Film man sich eigentlich gerade anschaut - und einen schockierenden Schlag in die Magengrube als fulminantes Finale gibt’s dann noch als Zugabe obendrauf.

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