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    The Real Estate
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Real Estate
    Von Christoph Petersen

    Wenn Frauen jenseits der 60, die nicht Isabelle Huppert („Elle“) heißen, auf der Leinwand Sex haben, dann ist das nur selten sexy. Und das liegt weder an den Figuren noch an den Schauspielerinnen, sondern daran, wie Regisseure den Sex inszenieren – nämlich in den meisten Fällen als übertrieben ungeschicktes oder übertrieben vorsichtiges Liebemachen. Aber nicht so in dem sein Publikum immer wieder verblüffenden Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „The Real Estate“. Wenn die 68-jährige Immobilienerbin Nojet hier mit einem potentiellen Interessenten in die Kiste springt, dann nimmt sie sich, was sie will, und reitet sein Gesicht, bis seine lauten Schmatzgeräusche schließlich noch von ihrem eigenen Lustgestöhne übertönt werden. Das ist rau, ein bisschen verstörend und verdammt sexy – wie der ganze Film von Axel Petersén und Måns Månsson, die hier mit massig Understatement und einer Noir-haften Inszenierung aus einem klassischen Komödienstoff ein atmosphärisch-lässiges, jenseits jeder politischen Korrektheit angesiedeltes, grotesk schwarzhumoriges Genre-Mood-Piece abliefern.

    Nach dem Tod ihres 97-jährigen Vaters, der immer ein Anhänger des sozialen Gedankens beim Wohnungsbau war, kehrt die 68-jährige Nojet (Léonore Ekstrand) aus Spanien nach Stockholm zurück, um ihr Erbe anzutreten. Das besteht aus einem großen Mietshaus mit mehr als 80 Wohnungen. Aber schon bei ihrem ersten Rundgang muss Nojet feststellen, dass hier vieles nicht mit rechten Dingen zuzugehen scheint. Viele Mieter haben keine passenden Verträge, zudem ist das Gebäude vollkommen verwahrlost, obwohl sich eigentlich ihr extrem nuschelnder Stiefbruder Mickey (Olof Rhodin) und dessen auch schon mittags Bloody Marys runterschlingender Sohn Chris (Christian Saldert) als Verwalter um alles kümmern sollten. Nojet, die in ihrem Leben noch nie einen Finger rühren musste, beschließt, so schnell wie möglich zu verkaufen, um anschließend wieder in den Süden abdüsen zu können – aber da hat sie die Rechnung ohne ihre Mieter und ohne ihre gar nicht so lieben Verwandten gemacht...

    Wenn Nojet sich erstmals einen Überblick über ihre Mieter verschaffen will, dann drängt sie sich regelrecht in deren Wohnungen und stellt ihnen dort die ungehörigsten Fragen, von denen einige sogar geradeheraus rassistisch sind. Aber Nojet ist keine dieser aus dem Wohlfühl-Arthousekino bestens bekannten, irgendwie drolligen älteren Herrschaften, die eben nicht wissen, was sich gehört und deshalb ruhig im angemessenen Rahmen politisch unkorrekt sein dürfen (man denke an Jack Nicholson in „About Schmidt“ oder an Tom Wilkinson in „ Der wunderbare Garten der Bella Brown“). Stattdessen entpuppt sich die wohlhabende Erbin, die ihr Leben lang noch für nichts und niemanden Verantwortung übernehmen musste, nicht nur als tatsächlich ziemlich selbstsüchtig, sondern zudem auch noch als geradlinige Geschäftsfrau, zugreifende Femme fatale, durchaus kompetente MG-Schützin und natürlich ruchlose Vermieterin. Die Kamera klebt fast den gesamten Film über regelrecht am Gesicht der grandiosen Léonore Ekstrand, die hier unglaublicherweise erst ihre dritte Kinorolle verkörpert (ihre ersten beiden Auftritte hatte sie ebenfalls in Filmen von Axel Petersén).

    Man würde diese Nojet seinem schlimmsten Feind nicht als Vermieterin wünschen. Dennoch bringt man ihr und Lex (Christer Levin), dem Anwalt ihres Vaters, der gerade an einem völlig absurden und an Zynismus wohl nicht mehr zu übertreffenden Obdachlosen-Musical arbeitet, wenn schon keine Sympathien, dann doch zumindest eine abgefuckte Bewunderung entgegen. Sie mag ausschließlich egoistische Ziele verfolgen, aber sie setzt sich in einer Gesellschaft durch, die sie am liebsten sofort wieder loswerden würde. Ach, das was ich gerade geschrieben habe, klingt alles schon wieder viel zu sehr nach schwarzhumoriger Rentner-Komödie à la „Paulette“. Aber das stimmt einfach nicht, wahrscheinlich wäre am Ende sogar Lynne Ramseys „A Beautiful Day“ („als hätte Jim Jarmusch einen vierten ‚Taken‘-Film inszeniert“) ein passenderer Vergleichsfilm, selbst wenn in „The Real Estate“ fast ganz auf Gewalteruptionen verzichtet wird. Aber wenn sie dann doch mal kommen, etwa während eines Lasertag-Matches, dann haben sie auch diese surreal-träumerische Qualität. Und in all diesem amoralischen Morast findet sich sogar noch Raum für Romantik, wenn auch nur ein einziges Mal – in Form eines ins Scheunentor geschossenen Herzens.

    Fazit: Nojet ist eine saulässige Seniorin – und der Film um sie herum passt perfekt zu ihr: radikal reduziert, irgendwie ziemlich cool, zum Erbrechen politisch unkorrekt, oft auch ein bisschen wahnsinnig und dazu noch verdammt sexy.

    Wir haben „The Real Estate“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.

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