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    Occupied City
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Occupied City

    Die doppelte Vermessung einer Stadt

    Von Christoph Petersen

    Vor 15 Jahren hat Steve McQueen sein IRA-Gefängnis-Drama „Hunger“ in einer Nebensektion bei den Filmfestspielen in Cannes präsentiert – und schon damals kämpferisch angekündigt, dass er beim nächsten Mal im offiziellen Wettbewerb des Festivals antreten will. Nun war der „12 Years A Slave“-Regisseur 2023 erstmals wieder mit einem Film in Cannes vertreten, allerdings erneut außer Konkurrenz. Vor der Premiere seiner Monumental-Dokumentation „Occupied City“ spielte der gutgelaunte Oscargewinner noch einmal auf seine damalige Ansage an: Er und der neben ihm stehende künstlerische Leiter des Festivals, Thierry Fremaux, würden schon wissen, woran es diesmal lag, das jetzt aber lieber unter den Teppich kehren und nach vorne schauen.

    Das kann natürlich alles bedeuten. Aber viereinhalb Stunden (+ eine 15-minütige Pause) später hat man eine ziemlich gute Vorstellung davon, was vielleicht das Problem gewesen sein könnte: In „Occupied City“ berichtet eine Off-Sprecherin in knapp-sachlichen Passagen von den Opfern der deutschen Besatzung in Amsterdam zwischen 1940 und 1945. Die Schilderungen basieren dabei auf dem Sachbuch „Atlas Of An Occupied City“ der Historikerin und Filmemacherin Bianca Stigter, die zugleich die Ehefrau des Regisseurs ist. Aber statt Archivaufnahmen zu nutzen, um die verschiedenen Schicksale zu bebildern, nutzt McQueen ausschließlich moderne Aufnahmen von Amsterdam, die er zwischen 2020 und 2022 jeweils an genau jenen Orten gedreht hat, an denen die Opfer damals gelebt oder gearbeitet haben.

    Sieht im ersten Moment aus wie Archivmaterial – ist aber tatsächlich der erste Schlittentag nach dem Ende des Corona-Lockdowns.

    Wer jetzt ein wenig mitgedacht hat, wird es vielleicht schon ahnen: 2020 bis 2022, da war doch was? Und tatsächlich: In einem Café sehen wir im Fernsehen, wie der niederländische Premier Mark Rutte den ersten Lockdown verkündet; in einem Restaurant nimmt auf jedem zweiten Stuhl ein niedlicher Stoff-Teddy Platz, um die Einhaltung des Social Distancing sicherzustellen. Es folgen Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, die teilweise von einem archaisch auftretenden Polizeiapparat (samt zähnefletschenden Hunden) zurückgedrängt werden.

    Auf der Tonspur hören wir also etwas über die damaligen nationalsozialistischen Verbrechen – und sehen zugleich die modernen Aufnahmen der Anti-Covid-Maßnahmen: Solche fast immer schiefen Nazi-Vergleiche haben in den vergangenen Jahren ja schon so manchen ins Abseits katapultiert – und womöglich war das auch dem Cannes-Auswahlkomitee einfach zu heiß, weshalb es dann „Occupied City“ doch lieber aus dem offiziellen Wettbewerb herausgehalten hat. Aber so einfach ist die Sache hier nicht – und am Ende sollte alleine schon die monumentale Laufzeit von mehr als vier Stunden ausreichen, um über den Reflex zum sofortigen Furor (den durchaus auch der Autor dieser Zeilen eine Zeitlang verspürt hat) hinwegzukommen und genauer hinzuschauen.

    Senioren-Impfen zu Rock-Musik

    Steve McQueen ist nämlich ganz sicher kein plumper Corona-Leugner – die ersten Pikser im Impfzentrum unterlegt er sogar mit einem launigen Rock-Song, da kommt inmitten all der Horror-Erzählungen fast so etwas wie Aufbruchstimmung auf. Auch Klima-Aktivismus, Pro-Palästina-Kundgebungen, die Aufarbeitung der kolonialistischen Schuld und die Ankunft der ersten Ukraine-Flüchtlinge spielt noch eine Rolle. Irgendwann ist deshalb klar, dass es McQueen vor allem darum geht, die Stadt als Ganzes zu vermessen – und zwar gleich doppelt: Mit der Erzählspur das Amsterdam der 1940er und mit den Bildern das Amsterdam der 2020er!

    Beides geschieht betont nüchtern: Die Sprecherin trägt all die recherchierten Schicksale in einem regelrecht akademisch-faktischen Ton vor – jeweils angefangen mit der genauen Adresse und den Namen der Beteiligten. Die kann man sich, wenn sie viereinhalb Stunden lang ununterbrochen auf einen hereinprasseln, natürlich gar nicht merken. Oft konzentriert man sich deshalb (gewollt oder ungewollt) ganz auf die durchweg starken Bilder, während man die Sprecherin für ein paar Sekunden oder gar Minuten ausblendet. Aber auch andersherum packen einen einige der Beschreibungen oder Anekdoten so sehr, dass es plötzlich die Bilder sind, die nur noch halbwahrgenommen an einem vorbeirauschen.

    Die Geister der Großstadt

    Wie weit die Schere zwischen Ton und Bild auseinandergeht, hat viele Ursachen: Manchmal ist das alte Haus längst abgerissen – und so hören wir zwar etwas von den Machenschaften einer Geheimpolizei, sehen im selben Moment aber den Bewohner*innen eines Altersheims dabei zu, wie sie ihre morgendlichen Fitnessübungen absolvieren (wie in einem Fantasy-Film, wo die Zeitreisenden mitunter auch an einem ganz unerwarteten Ort in der Zukunft aufschlagen). Und wenn über die Schließungen jüdischer Schulen durch die Nazi-Besatzer referiert wird, sehen wir im selben Moment einen kleinen Jungen, der im Klassenzimmer beim Berufe-Bingo einen Wutanfall bekommt – hier sprechen Vergangenheit und Gegenwart (nur scheinbar) miteinander.

    Da kommt man aus dem Assoziieren in alle möglichen Richtungen kaum noch heraus – und genau in diesen Räumen vermisst McQueen nicht nur Amsterdam in zwei verschiedenen Epochen, sondern doch irgendwie auch den Abstand der beiden (der wiederum mal größer und mal kleiner als erwartet anmutet). In der visuell stärksten Sequenz filmt die Kamera aus der oberen Frontscheibe eines Doppeldeckerbusses – es ist später Abend, die Straßen sind wegen des Lockdowns menschenleer und die Kamera kreist 360° Grad um ihre vertikale Achse. Eine surreal-geisterhafte Erfahrung – und nicht nur hier stellt „Occupied City“ am Ende eben doch eine Reihe unbequem-provokanter Fragen zum Damals wie zum zum Heute, die man keinesfalls einfach so vom Tisch wischen sollte…

    Fazit: Eine schon konzeptuell brillante Monumental-Doku, die mehr als vier Stunden lang mit grandiosen Bildern von Amsterdam während der Corona-Jahre aufwartet, zugleich aber nicht nur aufgrund ihrer Laufzeit von 262 Minuten, sondern auch wegen ihres streng-experimentellen Ansatzes einiges an Sitzfleisch von ihrem Publikum abverlangt.

    Wir haben „Occupied City“ im Rahmen des Cannes Filmfestivals 2023 gesehen, wo er außer Konkurrenz im offiziellen Programm gezeigt wurde.

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