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    Voyagers
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    1,5
    enttäuschend
    Voyagers

    Die Sci-Fi-Variante von Herr der Fliegen

    Von Christoph Petersen

    Ist der Mensch von Natur aus „gut“ oder „gewalttätig“? In seinem 1954 erschienenen Debütroman „Herr der Fliegen“ erzählt der britische Autor William Golding von einer Gruppe von Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren, die sich nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Südseeinsel zurechtfinden müssen. Schnell entstehen erste gesellschaftliche Strukturen – aber ohne Aufsicht durch Erwachsene werden die anfallenden Aufgaben von einigen schon bald nicht mehr gewissenhaft erledigt. Stattdessen kommt es zu immer gefährlicheren gewaltsamen Konflikten. Eine nihilistische, aber präzise beobachtete und stimmig ausgearbeitete Erzählung, die es nach anfänglichen Kontroversen schnell zu einem unangefochtenen Kultstatus gebracht hat.

    Der Science-Fiction-Thriller „Voyagers“, der ursprünglich regulär in den Kinos anlaufen sollte, aber nun wegen der coronabedingten Schließungen doch direkt bei Amazon Prime Video erscheint, ist zwar keine offizielle Neuadaption von „Herr der Fliegen“. Aber wenn man ehrlich ist, macht Regisseur und Drehbuchautor Neil Burger („Ohne Limit“) trotzdem nicht viel mehr, als den Plot des Romans an Bord eines Raumschiffs auf einer mehrere Generationen andauernden Mission zu verlegen. Nur gerät der Zusammenbruch der vermeintlich zivilisierten Gesellschaft bei ihm nie stimmig, stattdessen wirken die plötzlichen Stimmungswechsel der Teenager-Astronaut*innen klischeehaft bis unglaubwürdig – und am Ende führt Neil Burger auch noch seine eigene Prämisse ad absurdum.

    Christopher (Tye Sheridan) und Sela (Lily-Rose Depp) gehören zwar zu den Vernünftigen - aber irgendwann entgleitet auch ihnen völlig die Kontrolle über die Geschehnisse an Bord...

    Im Jahr 2063 ist es um die Erde nicht allzu gut bestellt. Ein Glück also, dass Wissenschaftler*innen einen Planeten entdeckt haben, auf dem sich die Menschheit wahrscheinlich ansiedeln könnte. Der Haken an der Sache: Die Reise dorthin würde mehrere Generationen lang dauern. Von denen, die zu der Mission aufbrechen, würde also niemand lebend dort ankommen. Weil das einen erheblichen psychologischen Druck bedeutet, beschließt ein Team um den Wissenschaftler Richard Alling (Colin Farrell), speziell für diese Aufgabe eine Gruppe von Jugendlichen heranzuzüchten, die in ihrem jungen Leben weder ihre Eltern noch die freie Natur kennengelernt haben – es gibt also nichts, was sie während ihres Fluges auf der Erde vermissen könnten.

    Nach einigen Jahren im All kommt Richard bei einem Unfall ums Leben. Die Teenager sind plötzlich auf sich alleingestellt. Während der demokratisch zum neuen Anführer gewählte Christopher (Tye Sheridan) und die Gesundheits-Offizierin Sela (Lily-Rose Depp) an die Vernunft und die Verantwortung der anderen appellieren, sieht unter anderem Chefingenieur Zac (Fionn Whitehead) nicht ein, warum sie sich für zukünftige Generationen aufopfern sollten. Nachdem einige der Jugendlichen die tägliche Einnahme eines blauen Getränks, das ihre Emotionen und ihren Sexualdrang unterdrücken soll, eigenmächtig stoppen, eskaliert die Situation immer weiter, bis schließlich die gesamte Mission in Gefahr gerät...

    Von Null zu Arschloch in weniger als 10 Sekunden

    Die Prämisse ist nicht neu – aber sie ist auch längst noch nicht auserzählt, zumal das spezifische Sci-Fi-Setting von „Voyagers“ im ersten Moment perfekt geeignet scheint, um die zentralen Themen aus William Goldings Roman weiter zu verhandeln. Und solange Colin Farrell („Phantastische Tierwesen“) noch mit an Bord ist, entwickelt sich der Film auch durchaus vielversprechend. Nach dem Ausscheiden des Quasi-Vertrauenslehrers gelingt es Neil Burger aber einfach nicht, das Zusammenbrechen der vermeintlich krisensicher herangezüchteten zivilisatorischen Errungenschaften glaubhaft zu illustrieren. Ganz im Gegenteil.

    Zu Beginn stolpert einmal eine der Teenie-Astronautinnen ganz leicht bei der Essensausgabe. Das fällt sofort auf, denn die Besatzungsmitglieder fungieren ansonsten wie perfekt gedrillte Maschinen. Immerhin wurden sie ja auch nur zu diesem einen Zweck im Reagenzglas gezeugt. Aber nach dem Absetzen des blauen Getränks gibt es keine subtil beobachteten Momente mehr – statt langsam die Anzeichen zu säen, dass hier etwas ganz gewaltig in die falsche Richtung laufen könnte, geschieht die Verwandlung vom roboterartigen Vorzeigenachwuchs hin zu sabbernd-sadistischen Sexualstraftätern mit Vatermordphantasien quasi instant – wie bei „SpongeBob Schwammkopf“, wo es auch oft nur einen einzelnen Schnitt vom liegengelassenen kleinen Krümel bis zum vollständig versifften Bikini-Bottom-Appartement braucht.

    Im Weltall hört dich bekanntlich niemand schreien! Also besser immer den Rücken freihalten, wenn man sich durchs Raumschiff bewegt...

    Wenn Fionn Whitehead („Dunkirk“) als Klischee-Psychopath in seinem plötzlichen Testosteronrausch Lily-Rose Depp („Yoga Hosers“) vor der versammelten Mannschaft an die Brust fasst, dann tut er das auf die denkbar absurd-umständlichste Weise – da gerät selbst sexuelle Belästigung unfreiwillig komisch. In der Folge sieht man im Hintergrund immer wieder Crewmitglieder beim Kopulieren – Sodom & Gomorra im sterilen Sci-Fi-Setting. Klingt reizvoll und womöglich sogar provokant, gerät aber komplett harmlos, weil die Astronaut*innen in ihrer umfassenden Ausbildung offenbar nicht gelernt haben, dass man vor der Penetration eigentlich die Hosen ausziehen müsste. (Später sieht man allerdings auch Frauen mit Babybäuchen, wo man sich dann schon fragt, wie die bei diesen jugendfreien Trockenübungen wohl zustande gekommen sind.)

    Selbst von Protagonist Christopher erfahren wir nicht viel mehr, als dass er wohl einer von den Guten ist. Mit so wenig charakterlicher Vorarbeit geraten die späteren gruppendynamischen Ausflüge in die Gefilde von Fake News und religiöser Manipulation (ein erfundenes Alien soll für Angst sorgen und die anderen gefügig machen) dann endgültig vollkommen unglaubwürdig. Neil Burger hat „Voyagers“ bis zum Schluss schick in Szene gesetzt, aber sein Drehbuch bricht spätestens nach der Hälfte völlig auseinander. Das wirkt fast ein wenig faul, schließlich stammt die Prämisse ja auch schon nicht von ihm.

    Achtung: Spoiler im nächsten Absatz!

    Zumal „Voyagers“ in einem völlig unverdienten Happy End mündet: In „Herr der Fliegen“ wird am Schluss die ganze Insel abgefackelt und auch der Protagonist überlebt nur, weil er doch noch rechtzeitig von einem Erwachsenen gerettet wird. In „Voyagers“ hingegen ist nach dem Tod von Zac plötzlich für die nächsten Jahre und Generationen einfach alles nur noch Eitelsonnenschein. „Herr der Fliegen“ war eine schonungslose Reflexion über die Natur des Menschen – in „Voyagers“ hingegen reicht es, das eine schwarze Schaf aus einer Gesellschaft auszusortieren, dann flutscht der ganze Rest offenbar wie von allein.

    Fazit: Neil Burger versucht, in seinem Sci-Fi-Thriller etwas über die Natur des Menschen zu erforschen – aber da sich die Menschen in seinem Film nur in den seltensten Fällen glaubhaft verhalten, kommt er wenig überraschend zu keinem stimmigen Ergebnis, sondern flüchtet sich stattdessen in ein völlig deplatziertes Ende.

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