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    Das Vorspiel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Das Vorspiel

    Die deutsche Antwort auf "Whiplash"

    Von Karin Jirsak

    Dass der küchenpsychologische Typus der sogenannten Eislaufmutter nicht nur im Sport, sondern auch in den schönen Künsten ihr Unwesen treiben kann, erzählt uns Ina Weisse („Der Architekt“) in ihrer spannend konstruierten Charakterstudie einer Geigenlehrerin, die mit ihrem krankhaften Ehrgeiz eine Katastrophe heraufbeschwört. Die perfekte Besetzung dieser ebenso tragischen wie zerstörerischen Figur hat Weisse mit Nina Hoss („Pelikanblut“) gefunden, die als hochdynamische Personifikation fehlgeleiteter Ansprüche in „Das Vorspiel“ eine beängstigend starke Performance liefert.

    Anna Bronsky (Nina Hoss) ist Geigenlehrerin an einem Berliner Musikgymnasium. Wegen einer psychischen Erkrankung musste sie ihre eigene Bühnenkarriere aufgeben und setzt deshalb nun umso mehr Hoffnung in ihren Sohn Jonas (Serafin Mishiev), den sie so rücksichtslos zum Üben antreibt, dass der Zehnjährige die Lust an der Geige schon beinahe ganz verloren hat. Als sich mit dem scheuen Alexander (Ilja Monti) ein neuer Schüler am Konservatorium bewirbt, wird Annas Ehrgeiz neu entflammt: Aus diesem Jungen kann mit dem nötigen Feinschliff etwas Großes werden, davon ist Anna im Gegensatz zu ihren Kollegen sofort überzeugt. Während sie Alexander im Einzelunterricht auf die Zwischenprüfung vorbereitet, entfremdet sich Anna mehr und mehr von ihrem Sohn und ihrem Mann Philippe (Simon Abkarian)…

    Nina Hoss ist als Geigenlehrerin ähnlich besessen wie J.K. Simmons in seiner oscarprämierten Rolle in „Whiplash“.

    Keine Frage, es ist eine große Nina-Hoss-Show, die wir hier sehen. Und die regieführende Schauspielerin Ina Weisse hätte wohl schwerlich eine bessere Besetzung finden können für diese innerlich zerrissene Frau, die an ihren eigenen Ansprüchen scheitert und dabei mit gnadenloser Fahrlässigkeit ihr Umfeld in den psychischen Ausnahmezustand treibt. Schnurstracks stöckelt Hoss mit fahrigen Schritten voran durch diese straff erzählte Chronik einer emotionalen Eskalation, ihr nuanciertes Mienenspiel lässt jedes fehlgeleitete Gefühl, jeden verqueren Gedanken auf beunruhigende Weise erahnen. Trotz dieser bemerkenswerten Präsenz ist „Das Vorspiel“ aber keine reine One-Woman-Show: Insbesondere die beiden jungen Darsteller Serafin Mishiev und Ilja Monti überzeugen mit ausdrucksstarkem und natürlichem Spiel, sodass sie keineswegs verblassen neben der strahlenden Furie, die Hoss hier mit Bravour entfesselt.

    Die Katastrophe scheint unausweichlich

    Das ausgefeilte Drehbuch von Ina Weisse und ihrer Co-Autorin Daphne Charizani lässt allen Figuren genügend Raum, um sich in der zunehmend gestörten Interaktion mit der hochneurotischen Antiheldin zu entfalten. Die Energie dieser Figur erzeugt ein destruktives Kraftfeld, in dem Anna Bronsky wie ein nervöses Pendel durch das fragile Geflecht ihrer dysfunktionalen Beziehungen von einem zum anderen schwingt. Von Szene zu Szene wird die Frage brennender, wer wohl als erstes unter dem Druck zusammenbrechen und die Katastrophe herbeiführen wird, auf die hier offensichtlich alles zusteuern muss: Anna Bronsky selbst? Jonas, der es seiner Mutter einfach nicht recht machen kann? Alexander, den sie mit den verordneten vier Stunden Üben pro Tag an den Rand der psychischen und körperlichen Erschöpfung treibt? Oder ihr sonst so besonnener Ehemann, wenn er von Annas Affäre mit ihrem Kollegen Christian (Jens Albinus) erfährt?

    Aus dem gefährlichen Gewirr der Kontroll- und Machtansprüche ergibt sich das hohe Spannungslevel, das Weisse mit jeder hektischen Geste, jedem unsicheren Blick, mit jedem übergriffigen Ausbruch ihrer Hauptfigur bis zum bitterbösen Finale ein kleines bisschen weiter anzieht. Dabei begeht Weisse nicht den Fehler, die Geschichte mit forciert dramatischen Momenten zu überfrachten, sondern setzt diese sehr wohldosiert ein – und erzielt so nur eine umso stärkere Wirkung.

    Sohn Jonas (rechts) und Schüler Alexander liefern sich ein Duell um die Gunst der Geigenlehrerin.

    Gewürzt wird die an sich ernste Geschichte mit einer guten Prise garstigem Humor. In einer Szene etwa erzählt Jonas seiner Mutter, dass er sich einen Hund wünscht, woraufhin er die Antwort erhält: „Du hast doch schon einen. Dein Hund ist die Geige.“ Bei solchen Aussagen weiß man als Zuschauer manchmal nicht, ob man lachen oder weinen soll. Neben aller Antipathie weckt Regisseurin Weisse immer wieder auch Verständnis für den außer Kontrolle geratenen Kontrollfreak, der Anna Bronsky nicht ohne Grund geworden ist. In wenigen aussagekräftigen Szenen wird die autoritäre Gewaltspirale, die sich in Annas Familie von Generation zu Generation nach unten hin fortsetzt, schmerzhaft nachvollziehbar. Wenn etwa Annas Vater seinen Enkel Jonas für das Ärgern der Ameisen im Garten bestraft, indem er die Hand des Jungen in den Ameisenhaufen drückt, braucht es kaum weitere Erklärungen für die Genese einer psychisch gewalttätigen Persönlichkeit.

    Fazit: Starker Mix aus Charakterstudie, Familiendrama und psychologischem Thriller. Auf dem Höhepunkt ihrer Schauspielkunst liefert Nina Hoss als Getriebene zwischen Kontrollsucht und Kontrollverlust eine furiose Performance, die aber trotzdem nie zur reinen One-Woman-Show gerinnt.

    Wir haben „Das Vorspiel“ auf dem Filmfest Hamburg gesehen.

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