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    Waste Land
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Waste Land
    Von Michael Smosarski

    Ein lebloser Körper in einer Badewanne, ein Tuch um den Kopf gewickelt, in der Hand ein Brief – es ist die Nachstellung eines geradezu ikonischen Bildes des Klassizismus, „Der Tod des Marat" von David, allerdings mit zwei bedeutenden Unterschieden: Dieser spezielle Marat ist Bewohner einer brasilianischen Favela, und hinter ihm türmen sich Berge von Müll auf. Regisseurin Lucy Walker und ihr Team (Joäo Jardim, Karen Harley) können auf viele dieser wirkmächtigen Bilder des Materialkünstlers Vik Muniz bauen, wenn es darum geht, ihre Kunstdokumentation mit optischen Glanzlichtern zu versehen. Beinahe drei Jahre lang begleiteten die Filmemacher Muniz bei seinem ehrgeizigen Projekt, einen gesellschaftlichen Nicht-Ort, die Mülldeponie von Rio, in Kunst zu transformieren. Glücklicherweise verharrt „Waste Land" jedoch nicht auf der Ebene des Visuellen, sondern fragt nach dem Hintergrund und der Gedankenwelt seiner Protagonisten. Auf diese Weise ist Walker und ihren Kollegen eine außerordentlich intensive Dokumentation gelungen, die weit über Fragen von Kunstschaffen hinausgeht und vielmehr mit viel Sensibilität Alltag und Seelenleben innerhalb dieses besonderen Künstler-Biotops greifbar macht.

    Vik Muniz ist der bekannteste und international angesehenste brasilianische Künstler; mit seinen Arbeiten setzt er stets auf ungewöhnliche, der Konsumwelt entnommene Werkstoffe wie etwa Tonbänder oder Sirup. Sein neuestes Projekt jedoch bringt ihn im weitaus größerem Maßstab mit Materialrecycling in Kontakt: Drei Jahre lang will er die Müllsammler im „Jardim Gramacho", der Mülldeponie von Rio de Janeiro, künstlerisch dokumentieren. „Waste Land" zeigt den Prozess der langsamen Annäherung von Künstler und Porträtierten ebenso wie die ungeahnten Abhängigkeiten, die sich aus dieser ungewöhnlichen Liaison ergeben.

    Zu Beginn konzentriert sich „Waste Land" naheliegenderweise auf die Figur Vik Muniz, die, bei aller Popularität in Kunstkreisen, wohl nur einem kleinen Teil des Kinopublikums bekannt sein dürfte. Dabei gelingt es Lucy Walker und ihrem Team, hölzerne biographische Abrisse ebenso wie akademische Analysen zu vermeiden. Vielmehr wird der Hintergrund des Künstlers nebst einer bündigen Werkschau inszenatorisch elegant vermittelt. Ohnehin bildet das Kurzporträt Muniz‘ lediglich die notwendige Grundlage, um kurz darauf die eigentlichen Protagonisten der Dokumentation vorzustellen, die Müllsammler im zynisch als „Garten" (Jardim) bezeichneten Abort des Konsumismus am Rande der Millionenstadt.

    Es sind jene Charaktere, die dem Film Farbe und Leben verleihen. Dabei hätten ihre filmisch intensiv beleuchteten Lebensgeschichten ebenso gut Pathos und Sentimentalität Vorschub leisten können. Es ist die Direktheit und Natürlichkeit der Müllsammler, die solche Befürchtungen von Anfang an zerstreuen. Ihre Trauer, ebenso wie ihre Fröhlichkeit und auch ihr Stolz, nehmen das Publikum für die Arbeiter ein, ohne ihm beständig Empathie oder, schlimmer noch, Mitleid abzunötigen.

    Die Reichhaltigkeit der inszenatorischen Mittel ist ein weiterer Pluspunkt der Dokumentation. Zwischen intimen Handkamera-Aufnahmen und Luftbildern der Deponie, die den Ort selbst zum abstrakten Kunstwerk machen, bedient sich die Regisseurin einer breiten Palette bildsprachlicher Mittel. Erstaunlich wirkungsvoll ist auch der zurückhaltende, akzentuierte Score von Moby, dessen Musik für gewöhnlich doch eher unverbindlich und glatt ist. Insgesamt tänzelt „Waste Land" gekonnt zwischen Poesie und sozialem Realismus: Auf seltsam schöne, außerweltliche Bilder, die die Arbeiter von „Jardim Gramacho" im strömenden Nachtregen zeigen, folgen klare, unsentimentale Interviews mit den Beteiligten.

    Im genauen Nachvollzug des biographischen Abschnitts der Protagonisten entstehen letztlich gar narrative Strukturen, die Lebensgeschichten nicht nur aus der Vogelperspektive erahnen lassen, sondern diese tatsächlich erzählerisch greifbar machen. Mit „Waste Land" stellen Lucy Walker und ihr Team den Bildern Muniz‘ einen kongenialen Film zur Seite, der sowohl dem kunst- als auch dem sozialdokumentarischen Anspruch, den das ambitionierte Projekt mit sich bringt, vollauf gerecht wird.

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