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    The Ordinaries
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Ordinaries

    Der wohl originellste deutsche Film des Jahres!

    Von Ulf Lepelmeier

    Manchmal zahlt es sich aus, experimentierfreudig zu sein, sich von ungewöhnlich-schrägen Ideen nicht abbringen zu lassen, sondern an ihnen festzuhalten und diese auch umzusetzen. Regisseurin Sophie Linnenbaum („Väter Unser“) ließ sich zum Glück auch nicht beirren und hielt an ihrer außergewöhnlichen Prämisse einer streng hierarchisch organisierten Filmfiguren-Welt, in der die Hauptfiguren den Ton angeben, Nebenfiguren im Hintergrund ihre Dienste verrichten und Outtakes ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristen, für ihr Spielfilmdebüt fest. Herausgekommen ist die gewitzte Sci-Fi-Satire „The Ordinaries“, die in eine ideenreiche Filmweltdystopie à la Orwell entführt und sich zugleich für Offenheit und Integration stark macht. Nach einer begeistert aufgenommenen Premiere beim Filmfest München ging dann auch der Förderpreis Neues Deutsches Kino sowohl für die Beste Regie als auch die Beste Produktion verdientermaßen an den höchstwahrscheinlich originellsten deutschen Film des Jahres.

    Paula (Fine Sendel) ersehnt sich ein Leben mit aufregenden Szenen, aufbrandender Musik und großen Emotionen und lernt daher fleißig für ihre bald anstehende Abschlussprüfung an der Schule für Hauptfiguren. Dabei möchte sie auch ihre Mutter stolz machen, die als Nebenfigur immer nur im Hintergrund auftreten kann und deren Dialoge und damit auch ihre Ausdruckmöglichkeiten limitiert sind. Paula ist eine gute Schülerin, nur das Erzeugen emotionaler Musik will ihr nicht so recht gelingen. Auf der Suche nach großen Emotionen versucht sie, mehr über ihren verstorbenen Vater, einer heldenhaften Hauptfigur, zu erfahren – und stößt dabei auf immer mehr Ungereimtheiten. Schließlich verschlägt es Paula sogar in das Gebiet der Outtakes, in dem Filmfehler, Jump-Cuts und Fehlbesetzungen hausen müssen – und sie fängt langsam an, an der eigenen Heldinnengeschichte und der von Angst und Vorurteilen geprägten Gesellschaft zu zweifeln…

    "The Ordinaries" erzählt nicht nur von Filmfiguren, sondern ist auch eine Hommage an die verschiedensten Filmtechniken wie hier dem Split Screen.

    Die Idee einer hierarchisch gegliederten Welt der Filmfiguren klingt erstmal spannend, aber auch arg verkopft und theoretisch. Die Gedankenspielerei der Regisseurin, wie Filmfiguren wohl damit umgehen würden, einfach nicht mehr im Bild präsent zu sein oder geschnitten zu werden, war schon der Ausgangspunkt zu ihrem Kurzfilm „[Out of Fra]me“, in dem ein junger Mann an einer Selbsthilfegruppe für Filmfiguren teilnimmt. „The Ordinaries“ spinnt diese Grundidee der am Rande der (Film-)Gesellschaft stehenden Figuren nun konsequent weiter. Sophie Linnemann und Michael Fetter Nathansky lassen eine ganze Metawelt um sie herum entstehen und setzen die Außenseiterthematik in einen großen gesellschaftspolitischen Kontext. So haben die Filmfiguren die Chance, Fächer wie emotionale Schlüsselszenen, Cliffhänger oder panisches Schreien an der Schule zu belegen, um sich so womöglich ein Dasein als strahlende Hauptfigur zu erarbeiten.

    Schließlich geht dies auch mit einem höheren sozialen Status, Wohlstand und mehr Ausdrucks- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten einher. Schnittfehlern, Fehlbesetzungen, Schwarz-Weiß-Figuren oder Jump Cuts müssen hingegen als geächtete Outtakes im Untergrund hausen. Dabei kommen Fragen danach auf, wer eigentlich die Macht besitzt, die Narrative zu bestimmen, oder wie schwierig es in einer Gesellschaft ist, unabhängig vom Elternhaus aufzusteigen. Die ausgeklügelte Filmmeta-Welt ist von dem Drehbuchduo so liebevoll erdacht und ausgearbeitet, dass sie stets emotional zugänglich bleibt und man der Heldin allzu gern auf ihre fantasievolle Reise folgt.

    Die einen singen, die anderen beherrschen nur ein paar Sätze

    Fine Sendel („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) weiß in ihrem Spielfilmdebüt die Unsicherheit ihrer Figur gut herauszustellen. Mit verschreckten Blicken und einer gewissen Traurigkeit in ihren Augen lässt sie Paula durch ihr Filmfigurendasein schreiten. Als Tochter einer Nebenfigur und einer legendären, beim Aufstand der Outtakes gefallenen Hauptfigur, steht sie zwischen zwei Gesellschaftsklassen und fühlt sich nie wirklich ganz dazugehörig. So beneidet sie ihre Freundin Hannah etwa um ihre wohlhabende, zusammen Musicalnummern anstimmende Hochglanzfamilie und ist manchmal peinlich berührt, wenn ihre stets besorgte Mutter nur die Standartsätze einer Nebenfigur von sich geben kann. Wie ungerecht und strikt hierarchisch ihre Welt eigentlich ist, wird ihr aber erst auf der Suche nach dem Geheimnis um ihren Vater und damit ihrer eigenen Identität wirklich bewusst. Die Regisseurin spiegelt und prangert in ihrem Metafilmuniversum dabei nicht nur Ausgrenzung und Xenophobie auf einfallsreiche Weise in einem unterhaltsamen Film an, sondern setzt auch mit ihrem vorbildlichen diversen Cast ein klares Zeichen.

    Linnenbaum beschreibt ihren beherzt zwischen den Genres wechselnden Film selbst treffend als tragikomische Politsatire im Science-Fiction-Gewand. Dabei wandelt „The Ordinaries“ nicht nur mit Leichtigkeit zwischen Genres wie Coming-of-Age, Musical oder Politsatire, sondern bietet insbesondere für Filmfans eine Fülle an gewitzten Hommagen an die Filmgeschichte sowie Filmtechnik. Dabei punktet der Film mit seiner wohldurchdachten visuellen Konzeption. So stehen die knalligen Farben der Hauptdarstellerumgebung, die an Musicals aus den 1950igern erinnern, im Kontrast zu den in Sepia- und Pastelltönen gehaltenen Nebenfigurenarealen und haben mit den beinahe farblosen Gebieten der Outtakes nicht mehr viel gemein. Und auch wenn vielleicht nicht jeder Aspekt der einfallsreich-verspielten Welt bis zur letzten Konsequenz schlüssig erscheint, machen die Fülle an kreativen Ideen, der wilde Genre-Mix und die fühlbare Begeisterung dies schnell vergessen. Passend zum Metafilmgedanken gibt es in dem fantasievollen Film zudem jede Menge Filmverweise zu entdecken, da kommt dann auch schon mal Lassie vorbeigelaufen oder wartet Forrest Gump auf einer Parkbank auf den Bus…

    Fazit: Mit „The Ordinaries“ ist Regisseurin Sophie Linnenbaum ein lohnendes Wagnis eingegangen, bei dem ein ganz und gar außergewöhnliches Werk entstanden ist. Hochoriginell, amüsant und dabei gesellschaftskritisch erzählt „The Ordinaries“ eine gewitzt-dramatische Heldinnenreise in einer faszinierenden Metafilmwelt mit einer Fülle an amüsanten Ideen und Verweisen auf Kinohistorie und Filmtechnik.

    Wir haben „The Ordinaries“ im Rahmen des Filmfest München 2022 gesehen.

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