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    La Soufrière - Warten auf eine unausweichliche Katastrophe
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    La Soufrière - Warten auf eine unausweichliche Katastrophe
    Von Carsten Baumgardt

    In den 70er und frühen 80er Jahren gelangte der Münchner Regisseur Werner Herzog als begnadet visionärer und kompromissloser Filmemacher zu internationalem Ruhm. Neben seinen zentralen Arthouse-Werken, die zumeist in der Zusammenarbeit mit seinem Alter Ego Klaus Kinski („Aguirre, der Zorn Gottes“, „Nosferatu - Das Phantom der Nacht“, „Woyzeck“, „Fitzcarraldo“, „Cobra Verde“) entstanden, drehte Herzog zwischendurch auch immer wieder Dokumentationen (u. a. „Gasherbrum - Der leuchtende Berg“). Einen nicht unbedeutenden Teil des Herzog’schen Mythos begründet der im August 1976 realisierte, legendäre Dokumentarfilm „La Soufrière - Warten auf eine unausweichliche Katastrophe“, der 1978 mit dem Deutschen Filmpreis in Silber prämiert wurde.

    Kurz nach seinem Filmexperiment „Herz aus Glas“ (1975), in dem Herzog seine Schauspieler unter Hypnose agieren ließ, faszinierte ihn eine Meldung so sehr, dass er sofort mit der Umsetzung dieses Projektes startete. Das ganze Jahr über ereigneten sich 1976 schwere Erdstöße rund um den Erdball, doch auf der Karibikinsel Guadeloupe bahnte sich die spektakulärste Katastrophe an. Der Vulkan La Soufrière stand nach Meinung aller Experten unmittelbar vor dem Ausbruch. Die 73.000 Bewohner der Insel, die unter französischer Verwaltung steht, mussten evakuiert werden. Besonders gefährdet war die Stadt Basse-Terre im Süden Guadeloupes. Als Herzog aus der Zeitung davon erfuhr, dass ein einziger im Sterben liegender Bauer sich weigerte, die Insel zu verlassen, brach er noch am nächsten Tag auf. Im kleinen Team mit seinen beiden Kameramännern Jörg Schmidt-Reitwein („Jeder für sich und Gott gegen alle“, „Herz aus Glas“, „Nosferatu“, „Woyzeck“) und Ed Lachman („The Virgin Suicides“, „Sweet November“, „Erin Brockovich“, „Dem Himmel so fern“) traf Herzog auf der Insel ein.

    Dort erwartete sie eine gespenstische Stille, „wie an einem Science-Fiction-Ort“, so Herzog, der auch in seinem unnachahmlich fatalistischem Tonfall den Kommentar zu dieser 31-minütigen Doku spricht. Alle Menschen hatten das Eiland bereits verlassen, weil der Ausbruch unmittelbar - in den nächsten Stunden oder bestenfalls Tagen - bevorstand. Eine skurrile Szenerie. Die Ampeln taten weiter ihren Dienst, Fernseher liefen noch - ansonsten herrschte Stille vor dem Inferno. Dabei prognostizierten die Seismologen nicht eine konventionelle Eruption, sondern eine gewaltige Explosion, die aus einem Gasgemisch gespeist werden sollte und die Sprengkraft von fünf bis sechs Atombomben erreichen könnte. Dieses Himmelfahrtskommando unter akuter Lebensgefahr für alle drei Beteiligten passte genau in die Vita Herzogs, der für einen guten Film immer über alle Grenzen ging und bei „La Soufrière“ gar den möglichen Tod in Kauf nahm. Sein selbst auferlegtes Ziel war es, die letzten Bilder von Basse-Terre vor der Zerstörung festzuhalten. Mit einem Hubschrauber wollten sie sich rechtzeitig in Sicherheit bringen und alles auf Film bannen.

    Nach der Ankunft guckte sich das Team in der verlassenen Stadt um und fing atemberaubend schöne, wie schaurige Bilder ein. Die Menschen mussten ihre Tiere zurücklassen und so waren sie die einzigen, die noch umherirrten. Viele, vor allem Hunde, sind verhungert oder vor Erschöpfung gestorben. Um Bilder direkt vom Vulkan-Krater zu bekommen, setzen Herzog, Schmidt-Reitwein und Lachman alles auf eine Karte. Sie umfahren die errichteten Sperren des Militärs querfeldein und wagen sich bis auf 1.400 Meter Höhe des La Soufrière (1.467 Meter) - bis sie auf eine lebensgefährliche Schwefelgaswolke stoßen, die sie in Panik versetzt und zum Rückzug zwingt. Stunden später als der Wind gedreht hat, nehmen sie einen erneuten Anlauf und bekommen diesmal faszinierende Aufnahmen vom oberen Vulkanteil. Nach einiger Zeit stößt das Filmteam auch auf den Bauern, der sich weigerte, die Insel zu verlassen. „Ich warte auf meinen Tod. Gott hat es so befohlen. Ich habe keine Angst“, sagt der Mann. Später begegnen sie noch zwei weiteren Männern. Einer der beiden, ein 55-jähriger, 15-facher Familienvater will auf die Tiere aufpassen. Auch er hat keine Angst vorm Sterben.

    Dass es am Ende wider allen Erwartungen und trotz über 1000 kleineren Erdstößen pro Tag nicht zur Katastrophe kommt, ist gleichsam Wunder wie Rätsel. Keiner der Wissenschaftler hatte eine Erklärung dafür. Es dauerte ganze fünf Monate, bis alle Einwohner auf die Insel zurückkehrten und die Gefahr als gebannt galt. So scheiterte Herzog mit „La Soufrière“ wie viele seiner (Anti)helden spektakulär. „Für uns endete alles in völliger Nichtigkeit und Lächerlichkeit“, resümierte er. Eine Dokumentation über eine Katastrophe, die nicht stattfand. Doch einen Nutzen hatte die Beinahe-Tragödie dennoch. Durch die Aufmerksamkeit in der Presse wurde die Weltöffentlichkeit auf die ärmlichen Lebensumstände der vornehmlich schwarzen Bevölkerung aufmerksam... Und Fans von Werner Herzog bekamen eine stimmungsvoll-gespenstische Dokumentation voll atemberaubender Schönheit und verstörendem Elend zu sehen.

    Anmerkung: Die Dokumentation „La Soufrière“ ist sehr rar. Das PAL-Video ist über die Internetseite von Werner Herzog (www.wernerherzog.com) erhältlich oder auf DVD im Bonusmaterial von „Woyzeck“.

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