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    Deutschland kann mehr als nur "Tatort" – und dieses knallharte Thriller-Highlight auf Netflix ist der beste Beweis
    Patrick Kittler
    Patrick Kittler
    Hasst wahrscheinlich einen deiner Lieblingsfilme, empfiehlt dir aber im Gegenzug ein Haufen Meisterwerke.

    Ist deutsches Genre-Kost gleich „Tatort“? Unser Autor, Patrick Kittler, hat für euch mit dem Mehrteiler „Gladbeck“ auf Netflix aber einen Gegenbeweis herausgekramt, der zeigt: Auch hiesige Produktionen können ganz andere Wege gehen...

    Die Geschichte von „Gladbeck“ dürfte für einige keine Überraschungen zu bieten haben, denn es handelt sich um einen realen Fall, der keine 40 Jahre her ist, und somit noch präsent im kollektiven Gedächtnis sein dürfte. Ein relativ banaler Banküberfall zweier Kleinkrimineller artete 1988 zu einem für die Bundesrepublik beschämenden Geiseldrama und Medien-Spektakel aus, das sich über halb Deutschland erstreckte und an dessen Ende drei junge Menschen ihr Leben verloren.

    Regisseur Kilian Riedhof hat daraus einen Zweiteiler gemacht, der in Netflix nun als eine Mini-Serie in vier Folgen verfügbar ist. Darin schafft er es die groteske Stimmung dieser Ausnahmesituation multiperspektivisch (Wichtig: auch die Perspektive der Opfer und ihrer Angehörigen!), ungeheuer mitreißend und dicht zu inszenieren (dafür am besten alle vier Folgen direkt am Stück schauen!), ohne dabei einer reißerischen Sensationslüsternheit zu verfallen. Denn er weiß, was der Skandal an „Gladbeck 1988“ war und will ihn nicht reproduzieren: Die mediale Ausschlachtung der Lebensgefahr, in der sich die Geiseln befanden, und die bereitwillige Verbreitung über das Fernsehen samt allen denkbaren Geschmacklosigkeiten.

    Sei es die Aufforderung eines Journalisten an einen der Geiselnehmer der jungen, später getöteten Silke Bischoff die Waffe doch bitte für einen Schnappschuss noch einmal an den Kopf zu halten, Interviews mit den Entführern über den weiteren Verlauf der Geiselnahme, als wäre man in der Halbzeitpause eines Fußballspiels, und nicht zu vergessen, das widerwärtige Intervenieren des Reporters, und späteren Chefredakteurs der „Bild“, Udo Röbel vom „Kölner Express“, der zu den Entführern ins Auto stieg und ihnen den Weg aus Köln zur A3 navigierte.

    Eine Studie menschlichen Verhaltens

    Unbedingt sehenswert ist Riedhofs Vierteiler aber nun nicht nur vorrangig, weil er spannungsgeladene Unterhaltung zu bieten hat – denn, wie bereits erwähnt, für viele dürfte der Ausgang der Geschichte keine Überraschung sein. Stattdessen zieht „Gladbeck“ seinen Mehrwert daraus, das zu fokussieren, was in Bausch und Bogen eigentlich schon immer der Kern des Kinos war: die Untersuchung und Analyse menschlichen Verhaltens.

    Demzufolge entsteht die Intensität deutlich weniger aus dem „Was ist passiert?“ der Geschichte, sondern aus dem „Wie zum Teufel konnte das alles eigentlich passieren?“. Denn wo findet denn die Polizei in diesem ganzen Fiasko statt? Gut, die ist durch das föderale System Deutschlands zu oft damit beschäftigt, zu klären, welches Polizeipräsidium denn nun zuständig sei, wenn die Entführer die Grenze zum nächsten Bundesland überschreiten. Statt zu kommunizieren und produktiv zusammenzuarbeiten, schiebt man die Verantwortung immer wieder aufs Neue ab, um am Ende nicht derjenige zu sein, der den Einsatz womöglich vermasselt. Die Angst vor dem Risiko ist auch der Grund, weswegen man die initiale Chance verpasst, die Täter in der Bank zu stoppen, da man die Geiseln unter keinen Umständen gefährden sowie schlechte Presse und polizeiinterne Konsequenzen vermeiden will.

    Und genau das ist das Beeindruckende an „Gladbeck“: Die Motive und Gründe, warum hier am laufenden Band versagt wird, sind nicht unbedingt immer so niederträchtig wie die der karrieristischen Reporter und Journalisten. Ein verantwortlicher Kommissar verweigert beispielsweise auch den Scharfschützen-Todesschuss auf die Entführer, weil er fordert, dass nach dem NS-Regime deutsche Polizisten nie wieder willentlich auf Bürger mit Tötungsabsicht schießen dürfen.

    Empörung ohne moralische Überlegenheit

    Das Scheitern ist hier durchgängig ein zutiefst menschliches – in all seiner Grausamkeit und Hässlichkeit, ohne die Schuld der Beteiligten zu relativieren –, und deswegen auch ein sehr fatales. Auch die Täter werden glücklicherweise nicht, wie gerne üblich, zu Monstern stilisiert, sondern schlichtweg als katastrophal handelnde Menschen gezeichnet, denen man eine gewisse Tragik nicht abspricht und auch nicht absprechen sollte.

    Und trotz aller angebrachten Empörung, die Riedhofs Drama bei uns auslöst, verweigert er uns die Erhabenheit über die Geschehnisse. Denn bei aller abstrusen und abstoßenden Sensationsgeilheit, die uns hier vorgeführt wird, weiß „Gladbeck“ um seine Dialektik.

    Denn die Frage, „Wer wären wir in der Szenerie gewesen?“, stellt sich bei der menschlich nachvollziehbaren Darstellung im Verlauf der insgesamt fast 3 Stunden unweigerlich. Sind wir nicht genauso Voyeure, wenn wir uns gerade diesen Mehrteiler mit Snacks auf der Couch ansehen, die auch womöglich bereit gewesen wären, damals den Fernseher einzuschalten und diesen Skandal live mitzuverfolgen?

    „Gladbeck“ beklemmt uns, weil er uns mit unserer eigenen Fehlbarkeit konfrontiert. Weil wir wissen, dass das abartige Verhalten der Journalisten und Medien auch ein Surrogat für unsere ureigenen sensationsgierigen und perversen Bedürfnisse ist. Diese Medienmacher bedienen einen Markt, mit einer entsprechenden Nachfrage, und der Markt, der sind wir. Wie viele gute Thriller ist „Gladbeck“ also nicht nur eine unterhaltsame Bilderflut auf dem Fernseher, sondern auch ein Spiegel.

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