
Als Regisseur Rich Peppiatt, der kurz zuvor nach Belfast gezogen war, die HipHop-Band Kneecap bei einem Live-Auftritt sah, spürte er: Diese Jungs sind pures Dynamit! Móglaí Bap (Naoise Ó Cairealláin) und Mo Chara (Liam Óg Ó Hannaidh) rappen auf Englisch und Irisch über Politik, Sex und Drogen. Gemeinsam mit DJ Próvaí (J.J. Ó Dochartaigh) bringen sie den Raum zum Kochen.
Rich Peppiatt entschied sich, keine Doku zu machen, sondern ein Real-Life-Biopic mit der Band, die ihr zweites Album („Fine Art“) im Juni 2024 veröffentlichte. Inspiriert von der echten Story entwickelte Peppiatt eine schwarzhumorige Musikdramedy mit Beastie Boys- und „Trainspotting“-Vibe. Im Film spielen die drei Kneecapper drogeninduzierte Versionen von sich. Vieles ist wahr. Zum Beispiel, dass JJ wie sich DJ Próvaí auch im Film nennt, als Irischlehrer arbeitete. Als er auf den Bühne bei „Get Your Brits Out“ seinen nackten Hintern präsentierte, war er seinen Job los. Michael Fassbender („Der Killer“), der im Film den Vater einer der Kneecapper spielt, fand die Band so großartig („I just loved them“), dass er sofort zusagte und mit ihrer Hilfe sein Gälisch verbesserte.
Weltweit spielte „Kneecap“ bereits 4,5 Millionen Dollar ein, schon jetzt ist „Kneecap“ der erfolgreichste Film in irischer Sprache, ist für insgesamt sechs BAFTAS nominiert und stand für den Auslandsoscar auf der Shortlist. Warum „Kneecap“ kein Drogenfilm ist, wie es um das sprachliche Erbe bestellt ist, welche persönlichen Einflüsse bei der Umsetzung von Bedeutung waren und warum die Band ein verdammt starker Gegner ist, erklärt Regisseur Rich Peppiatt Journalistin Susanne Gietl im großen FILMSTARTS-Interview.

FILMSTARTS: Du hast Kneecap auf einem Konzert in Belfast gesehen und dann beschlossen, diesen Film zu machen. Wie muss man sich einen Auftritt der Band vorstellen?
Rich Peppiatt: Sie sind wahrscheinlich einer der elektrifizierendsten Live-Acts der Welt. Als ich aufgewachsen bin, hatte „Rage Against the Machine“ diese Art von mitreißender Energie. Diese drei Künstler, denen Politik am wichtigsten ist, treten schamlos für das ein, woran sie glauben, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren. Kneecap kümmern sich nicht um schlechte PR und lassen sich nicht in Watte packen. Das wollte ich unbedingt im Film unterbringen.
FILMSTARTS: Und wie macht man das?
Rich Peppiatt: Eines der schwierigsten Dinge, wenn man einen Film schreibt, ist der Versuch, herauszufinden, wie der Ton des Films lautet. Daran scheitern viele Filme. Ich hatte das Glück, diese Palette an Musik zu haben mit der ich gut arbeiten konnte. Ein Film mit Kneecap-Musik und der Story der Band will anarchisch und schnell sein und Regeln brechen! Das hilft einem schon in einem sehr frühen Stadium beim Schreiben des Drehbuchs und des Storyboards (Anm. d. Red.: Es waren an die tausend!). Wenn ich den Stil von Kneecap nehme und daraus einen Film über Napoleon machen würde, wäre das wahrscheinlich schrecklich.
(Beide lachen laut)
Rich Peppiatt: … oder eine geniale Idee, aber wahrscheinlich eher nicht. Würde ich einen anderen Film genauso machen? Eher nicht. Aber es war eine einzigartige Erfahrung, weil es sich anfühlte, als gäbe es keine Regeln. So konnte ich zum Beispiel eine zufällige Szene mit Knetfiguren in der Mitte des Films einbauen, die Song-Notizen von Mo Chara auf der Leinwand zeigen, in der Zeit springen und die vierte Wand durchbrechen. All das sind Dinge, die wir einfach so gemacht haben. Aber das lag, glaube ich, auch daran, dass ich viele Jahre lang darauf hingearbeitet hatte, meinen ersten Spielfilm zu machen. Als es endlich so weit war und die Finanzierung klar war, wollte ich vor allem einen Film für mich machen und die Dinge auf die Leinwand bringen, die ich sehen wollte.

FILMSTARTS: Also eigene filmische Einflüsse einbringen…
Rich Peppiatt: …und deshalb macht es mir egoistischer Weise nichts aus, zu versagen. Es macht mir nichts aus, wenn niemand diesen Film sehen will. Das ist ein Film, den ich genauso machen wollte und den ich für sich liebe, und das empfinde ich als Erfolg. Wenn man einen Film für andere Leute macht, aber es ist nicht wirklich das, was man im Herzen will, fühlt es sich ein bisschen hohl an, wenn man erfolgreich ist, und wenn man scheitert, denkt man: Was wäre gewesen, wenn ich es auf meine Art gemacht hätte? Das wollte ich auf keinen Fall!
FILMSTARTS: „Kneecap“ zu sehen war eine sehr wilde Erfahrung! Der Film hat die gleiche anarchische Energie wie der Beastie Boys-Song „Sabotage“. Welche Filme haben Dich beeinflusst?
Rich Peppiatt: „Trainspotting“ ist einer, „La Haine“ (deutscher Titel: „Hass“) ein anderer. Ich streue gerne so kleine Referenzen ein. „Trainspotting“ kommt als Referenz vor, wenn JJ im Drogenrausch in den Mülleimer steigt und darin verschwindet. In „Trainspotting“ ist es die schlimmste Toilette Schottlands. Einige Filmemacher mögen keine offensichtlichen Verweise auf andere Filme in ihrer Arbeit und versuchen, die Illusion zu erzeugen, dass alles neu ist, dass sie alles geschaffen haben. Aber in Wirklichkeit schafft das wirklich keiner von uns so richtig. Man lässt sich von Dingen inspirieren oder klaut etwas, was man irgendwo anders gesehen hat.
Mich hat schon immer die berühmte Spiegelszene in „La Haine“ („Hass“) fasziniert. Ich wollte schon immer wissen, wie diese Szene umgesetzt wurde. Wo ist die Kamera? Als wir es dann herausgefunden hatten, dachte ich: Das müssen wir unbedingt machen! Also haben wir ein ganzes Set hinter dem Set gebaut, und so getan, als wäre das der Spiegel, aber da ist kein Spiegel, sondern ein Loch. Unser Kameramann Ryan Kernaghan war auf der einen Seite und JJ mit Sturmhaube auf der anderen. Beide mussten die Bewegungen des jeweils anderen lernen. Deshalb sieht es aus wie ein Spiegel, aber in Wirklichkeit ist das eine Menge Arbeit. Das sind so Spielereien, die richtig Spaß machen, wenn man Regisseur eines Films ist.

FILMSTART: Das klingt so riskant wie interessant. Man kann vor lauter Spielereien auch den Fokus verlieren…
Rich Peppiatt: Wir haben einen Low-Budget-Film gedreht, bei dem die Zeit drängte, und man musste sich entscheiden, ob man grundsätzlich für den Schnitt dreht und jede Menge kreativer Aufnahmen macht oder die Nerven verliert und einfach eine Totale aufnimmt und dann schaut, wie viel Zeit man noch hat, um kreativ zu werden. Wir haben alles auf eine Karte gesetzt und sind viele Risiken eingegangen. Die drei Hauptdarsteller waren nicht mal Schauspieler! Ich dachte, wenn wir schon scheitern, dann bitte richtig. Das war ein langer Weg, bis wir drehen konnten.
Sechs Monate vor den Dreharbeiten sind wir gemeinsam das Skript durchgegangen, die drei sollten einfach loslegen, aber es war einfach nicht gut. Ich konnte es nicht glauben, dass ich so weit gekommen war, den Film finanziert habe, alles genehmigt war und dann hatte ich drei Hauptdarsteller, von denen keiner schauspielern konnte! Also habe ich mir einen Schauspielcoach besorgt. Allerdings gibt es nur einen einzigen Schauspielcoach in Belfast. Glücklicherweise hat Kieran Lagan zugestimmt, uns zu coachen. In der ersten Woche habe ich mich neben ihn gesetzt und gesagt: „Okay, los“ und er erklärte mir dann, dass er vier Leute braucht und drei eine doofe Zahl ist. Also habe ich mitgemacht. Als Regisseur hat mir der Kurs geholfen, das Schauspiel-Handwerk zu verstehen und mit den Schauspielern auf eine Art und Weise zu kommunizieren, wie ich es vorher nicht konnte. Und ich konnte den Jungs von „Kneecap“ dabei zuzusehen, wie sie von Woche zu Woche wachsen und zu den Talenten werden, die man auf der Leinwand sieht.
FILMSTARTS: Dann konnte ja nichts mehr schiefgehen…
Rich Peppiatt: Die drei haben ein paar Monate lang nichts getrunken und waren richtig gut vorbereitet. Aber in der Nacht vor dem ersten Drehtag waren die Verlockungen der Hotelbar zu groß für sie, sie waren total betrunken und drehten richtig auf. Am nächsten Tag wollten sie mir am Set weismachen, dass sie nur Method Acting machen (lacht). Aber zum Glück haben sie sich danach zusammengerissen und die Leistung, die alle drei erbracht haben, ist fantastisch. Dafür gebührt ihnen alle Anerkennung.
FILMSTARTS: Wie hast Du dieses drogengeschwängerte Gefühl im Film erzeugt? Wie ich gehört habe, gab es auch eine Ketamin-Choreo, die die Band rückwärts gelernt hat…
Rich Peppiatt: Ja. In vielen Filmen kommen Drogen vor und oft fühlt sich das ganz ähnlich an. Da wird mit der Verschlusszeit und der Bildfrequenz herumgespielt, um Unschärfeeffekte zu erzeugen. Nichts davon fühlt sich so an, als würde es die Realität einiger dieser Substanzen widerspiegeln. Am häufigsten wird Kokain im Film gezeigt. Wir wollten uns etwas anderes einfallen lassen und dachten uns, dass wir eine Menge Ketamin-Zeug haben müssen. Denn um fair zu sein: die Band mag Ketamin!

FILMSTARTS: Was macht den Keta-Look aus?
Rich Peppiatt: Ketamin ist eine sehr seltsame, psychedelisch Droge, die auf eine nicht unbedingt visuelle, sondern eher existenzielle Art und Weise wirkt. Das brachte uns auf die Idee, einige seltsame Moves und Halluzinationen in Bildern umzusetzen. Da gibt es zum Beispiel die Szene, wo Naoise und Liam in den Bus einsteigen und jeder so genauso aussieht wie die Sitze im Bus. Es fühlt sich einfach an wie eine Ketamin-Erfahrung. Eine meiner Lieblingsrezensionen von „Kneecap“ lautet: „Es ist schön, einen Film über Drogen zu sehen, der eindeutig von Leuten gemacht wurde, die eine Menge Drogen genommen haben.“ Das passt!
FILMSTARTS: Die Band feiert eine hedonistische Jugendkultur mitsamt Drogen, erfindet Worte für MDMA, Schnupftabak und Koks und revolutioniert so die irische Sprache. Das könnte ziemlich viele Diskussionen hervorrufen…
Rich Peppiatt: Ich glaube, das hat deshalb eine Kontroverse ausgelöst, weil die Leute sagen, dass man zwar eine Menge Drogenkonsum zeigt, aber keine negativen Konsequenzen und das unverantwortlich sei, wenn junge Leute diesen Film sehen. Meine Antwort war immer, dass ich das verstehe, weil ich selbst Kinder habe, aber die meisten Menschen, die in ihrer Freizeit Drogen nehmen, enden nicht in einer Reha-Klinik.. Natürlich ist das bedauerlich, dass das passiert, aber warum muss jede Geschichte, die mit Drogen zu tun hat, einem bestimmten Narrativ folgen? Warum muss jeder Geschichte, in der es um Drogen geht, irgendwann damit enden, dass jemand vom Balkon springt? Das haben wir alle schon gesehen! Ich wollte eine Geschichte erzählen, in der es wirklich um etwas anderes geht. Ich sehe den Film nicht als Drogenfilm, denn die Drogen sind etwas, das im Film einfach passiert. Sie sind Teil ihres Lebens.
FILMSTARTS: „Kneecap“ ist dein Spielfilmdebüt, im Film wird sehr viel Gälisch gesprochen - vielleicht 70 oder 80 Prozent des Films.
Rich Peppiatt: Es sind eher 66 Prozent. „Kneecap“ ist sprachlich gesehen ein sehr schwieriger Film. Es war mir sehr wichtig, ihn so authentisch wie möglich zu halten, und die Authentizität besteht darin, dass die Band untereinander Irisch spricht. Sie haben ihre eigene Art von Patois (Mundart), der ins Englische hinein- und herausrutscht und ich habe mir gedacht, dass es ihrer Performance hilft, wenn sie in die Sprache hinein- und herausschlüpfen könnten. Ich denke, dass die Leute spüren, dass wir nicht versucht haben, irgendetwas zu beschönigen. Einige meiner Lieblingsfilme sind die, die einen in eine Welt eintauchen lassen, von der man gar nicht wusste, dass sie existiert, und einen einfach untergehen oder schwimmen lassen.
Außerdem kämpfe ich damit, dass sich manche Filme so anfühlen, als ob sie dafür gemacht sind, mit dem Handy dazusitzen und dem Film nur halb zu folgen. „Kneecap“ ist ein Film, bei dem man verdammt aufmerksam sein muss. Sonst ist man verloren. Einige brauchen selbst für die irischen Akzente Untertitel, um den Film zu verstehen. Vor allem, wenn man nicht aus Irland kommt.

FILMSTARTS: Unabhängig von der politischen Komponente: Verstehst Du die Faszination für die irische Sprache?
Rich Peppiatt: Gälisch ist eine wunderschöne, poetische Sprache. Sie wird durch Geschichten, in Gedichten und Musik weitergegeben und ist Tausende von Jahren älter als die englische Sprache. Wenn man „Kneecap“ in diesem Kontext als neue Generation von Geschichtenerzählern und Musikern sieht, die die Sprache weitergeben, wird das den Film und ihre Musik überdauern. Sie sind wichtige Figuren für das Überleben und hoffentlich das Gedeihen der Sprache. Wir werden von ihnen in den Geschichtsbüchern lesen.
FILMSTARTS: Die Band hat die britische Regierung auf 14.250 Pfund verklagt, weil ihnen 2023 eine Förderung in gleicher Höhe verweigert wurde. Der Grund: Sie haben sich gegen das Vereinigte Königreich ausgesprochen und seien daher nicht förderwürdig. „Kneecap“ haben die Klage gegen die Regierung gewonnen und spendeten danach das Geld an zwei Jugendorganisationen in Belfast. Auch im Film kämpft die Band um ihre Rechte! Da überholt doch die Wirklichkeit die Geschehnisse im Film!
Rich Peppiatt: Oh ja! Das war ein großer Sieg für die Band. Ich kann Euch nur raten: Legt Euch nicht mit „Kneecap“ an. Ihr könnt nur verlieren!
FILMSTARTS: „The Quiet Girl“ wurde 2023 von Irland als Beitrag für den Auslandsoscar eingereicht, jetzt bist Du in einer ähnlichen Situation. „Kneecap“ steht auf der Shortlist für den Auslandsoscar. Hast du Dich mit Colm Bairéad, dem Regisseur von „The Quiet Girl“ darüber ausgetauscht?
Rich Peppiatt: Colm hat mir gestern eine SMS geschickt und wir haben uns dann unterhalten. Er hat diese Art von Preisverleihungskampagne schon hinter sich und fiebert mit uns mit. Die irischsprachige Gemeinschaft ist in Irland sehr klein und wir alle wollen das irischsprachige Kino erfolgreich machen. Ich bin kein Muttersprachler, ich bin nicht einmal Ire, aber ich sehe mich in der Pflicht, die Sprache zu fördern. Ich habe mich mit der Sprache angefreundet und es ist etwas ganz Besonderes für mich, dass der Erfolg des Films dazu beitragen wird, dass junge Leute sagen: Weißt du was? Die Sprache ist cool.
