Für Arthouse-Fans gehört das Werk des Schweden Ingmar Bergman unabdingbar zum Kanon der Kinogeschichte. Heute besonders für seine rätselhaften Dramen wie „Persona“ und „Das siebente Siegel“ bekannt, war es in den 1960er-Jahren in Deutschland ein anderer Film, der durch hitzige Debatten volle Kinosäle herbeiführte: Die Rede ist von „Das Schweigen“ aus dem Jahr 1963. Während das Magazin Stern seinen Leser*innen mit „kirchlichem Segen“ empfahl, sich diesen Film bloß nicht anzuschauen, titelte die BILD „Proteste, Proteste, Proteste!“. Die sozialdemokratische Zeitung Vorwärts sprach hingegen von einer allgemein „zeitgemäßen Erregung“.
Erregung auf und jenseits der großen Leinwand
Diese Erregung fiel in Deutschland, insbesondere im europäischen Vergleich, unwahrscheinlich heftig aus – bis hin zu Parlamentsdebatten, Petitionen und Zensurforderungen. Dieser letzte Punkt zur Zensur ist hier indes zentral, denn dass die Reaktionen in Deutschland umso heftiger ausfielen, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der Film nur in Schweden und Deutschland ungeschnitten zu sehen war. Was auch dazu führte, dass einige Personen aus der Schweiz eigens für „Das Schweigen“ nach Deutschland kamen, um den Film dort in der originalen Schnittfassung sehen zu können.
Gerade die öffentliche Entrüstung war es dann aber, die „Das Schweigen“ erst zu einem der erfolgreichsten Filme der 60er-Jahre in der westdeutschen Bundesrepublik machte. Fast elf Millionen Zuschauer*innen – bei weniger als 60 Millionen Einwohner*innen der BRD zu dieser Zeit – sahen „Das Schweigen“. Zum Vergleich: „Avatar – Aufbruch nach Pandora“, der erfolgreichste Film aller Zeiten, hatte in Deutschland gerade mal rund 160.000 Zuschauer*innen weniger.
Eine schier unglaubliche Zahl, insbesondere dann, wenn man sich klarmacht, dass wir es hier mit einem FSK-16-Film (vormals sogar FSK 18!) zu tun haben – von den 60 Millionen möglichen Kinogänger*innen war damit also nochmal ein beträchtlicher Teil ausgeschlossen. Laut den Schätzungen des Branchen-Portals InsideKino liegt „Das Schweigen“ heute auf Platz 16 der meistbesuchten Kinofilme in der deutschen Geschichte. Mega-Blockbuster wie der zweite und der dritte „Herr der Ringe“-Film tauchen in der Liste erst später auf.
Für besonders viel Aufruhr sorgte die für die damalige Zeit ungewöhnlich offene Darstellung von Sexualität in „Das Schweigen“. Im Zentrum der Geschichte stehen die Schwestern Ester (Ingrid Thulin) und Anna (Gunnel Lindblom) sowie Annas Sohn Johan (Jorgen Lindstrom), die auf der Heimreise nach Schweden in der fiktiven Stadt Timoka einen Zwischenstopp einlegen müssen. Im Stile eines Bergman-typischen psychologischen Kammerspiels voller Hassliebe, Demütigung und sexueller Frustration erleben wir Annas Suche nach einem „Abenteuer“, während wir in einer Szene andeutungsweise sehen, wie Ester sich selbst befriedigt. Eine andere Stelle, in der Anna Ester davon erzählt, wie sie einmal in einer Kirche Sex mit einem Kellner gehabt habe, schockierte weite Teile der Öffentlichkeit zusätzlich.
Durch die damals noch engere Verbandelung von Kirche und Medien fand die Empörung lautstark Gehör. Wer aus heutiger Sicht allerdings auf „Das Schweigen“ blickt, findet darin keinesfalls pornografische Szenen, sondern vielmehr ein kaltes, tiefgehendes Charakterdrama, das die Sexualität zwar thematisiert, aber eher die Auswirkungen ihrer Unterdrückung verhandelt. Ganz ähnlich sah es seinerzeit auch die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), die den Film nicht indexierte, sondern ab 18 Jahren freigab.
Im Visier der Zensur?
Im Protokoll der Prüfsitzung vom 10. Dezember 1963 wurde betont, dass der Film von „allerhöchstem künstlerischen Rang“ und „mit äusserster [sic!] formaler Ökonomie ausgestattet“ sei. Weiter heißt es da, dass „nichts Unwesentliches geschehe“ und die „pikanteren“ Szenen einen „tiefen Sinn“ hätten, „denen man keinen Selbstzweck“ und nichts „Aufgesetztes oder Spekulatives“ unterstellen könne. Auch die Filmbewertungsstelle Wiesbaden verlieh dem Film das Prädikat „besonders wertvoll“ und positionierte „Das Schweigen“ damit als Kunst.
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Kritik blieb bei all dem trotzdem nicht gänzlich aus. „Literatur-Papst“ Marcel Reich-Ranicki kommentierte in der Zeit gewohnt spitzzüngig, dass sich „Spießer und Heuchler“ nun ruhigen Gewissens „einen feuchten weiblichen Busen“ ansehen und sich „aufgeilen“ lassen könnten, „denn man hat ihnen ja erklärt, es ginge um Gott“.
Bei der Staatsanwaltschaft in Duisburg gingen über hundert Anzeigen wegen „Unzüchtigkeit“ ein, die jedoch nicht weiter verfolgt wurden. Im Bundestag wurde die Bundesregierung nach ihrer Haltung zu solchen Filmen befragt, doch der Bundesinnenminister Herman Höcherl betonte, dass die Regierung keine Zensurrechte in Anspruch nehmen wolle. Im Zuge dieser politischen Zurückhaltung wurde die Bürgerinitiative „Aktion Saubere Leinwand“ ins Leben gerufen, die gegen Unmoral „unter dem Deckmantel der Kunst“ protestierte und durch entsprechende Änderungen im Grundgesetz den zunehmenden Darstellungen von Sexualität in der Kunst und den Medien einen Riegel vorschieben wollte.
Was Regisseur Ingmar Bergman selbst von all dem hielt? Vermutlich nicht allzu viel: „Über ‚Das Schweigen‘ will ich überhaupt nicht diskutieren. Ich finde, in dieser Diskussion ist der Film selbst meine einzige Antwort. Da will ich wirklich schweigen.“
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Fast 10 (!) Millionen Zuschauer: Dieses Kriegsfilm-Meisterwerk war in Deutschland erfolgreicher als "Avatar 2" und "Jurassic Park"!*Bei dem Link zum Angebot von Amazon handelt es sich um einen sogenannten Affiliate-Link. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision.