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    Das FILMSTARTS-Interview mit Paul Thomas Anderson zu seinem oscarnominierten Mode-Melodram “Der seidene Faden“

    Wir haben Paul Thomas Anderson in London getroffen, um mit ihm über sein bizarres Modebusiness-Liebesdrama „Der seidene Faden“, über das Karriereende von Daniel Day-Lewis und die Arbeit mit Superstars zu sprechen.

    Universal Pictures

    Jüngst erhielt Ausnahmeregisseur Paul Thomas Anderson („There Will Be Blood“, „Magnolia“, „Boogie Night“) seine fünfte Oscarnominierung, dieses Mal für die Regie von „Der seidene Faden“, seinem zweiten und mutmaßlich letzten Film mit dem dreifachen Oscarpreisträger Daniel Day-Lewis, der seine große Schauspielkarriere nun im Alter von nur 60 Jahren an den Nagel hängt. In seiner gotischen Romanze widmet sich Anderson detailversessen der Modewelt der 1950er Jahre und erzählt gleichzeitig eine unkonventionelle Liebesgeschichte über Macht und Abhängigkeiten, wenn sich der Londoner Star-Designer Reynolds Woodcock (Day-Lewis) in die selbstbewusste Kellnerin Alma (Vicky Krieps) verliebt - und sich sein Leben plötzlich verändert, auch wenn er das eigentlich gar nicht zulassen will.

    FILMSTARTS: Nachdem Daniel Day-Lewis während der Dreharbeiten zu „Der seidene Faden“ angekündigt hat, seine Schauspielkarriere zu beenden, hat er anschließend gesagt, dass ihn das Drehende mit Traurigkeit erfüllt, ein Gefühl, das du laut Day-Lewis teilen würdest. Kannst du das genauer erklären?

    Der seidene Faden

    Paul Thomas Anderson: Er hat das nicht korrekt wiedergegeben. Ich fühle keine Traurigkeit nach Beendigung des Films. Worüber ich meiner Erinnerung nach mit ihm gesprochen habe, waren Szenen im Film, die sehr lustig für uns waren, als wir sie geschrieben haben, aufgrund von Reynolds Woodcocks absurder Art und Weise, Leute zu behandeln. Wenn man zu zweit in einem Raum hockt und sich solche Sachen ausdenkt, ist das sehr amüsant. Aber in der Wirklichkeit, wenn man jemandem gegenübersitzt und diese gemeinen, fiesen Dinge sagt, ist das eben nicht mehr witzig, weil du siehst, wie es jemanden direkt betrifft und berührt. Daran erinnere ich mich. Wir hatten diese tollen, lustigen Ideen und nun sitzen wir hier im realen Leben und diese Szenen wirken eher düster und schmerzhaft. Ich habe mich nicht traurig gefühlt, als wir mit dem Film fertig waren. Ich glaube, das war eine Traurigkeit, die er gefühlt hat.

    Paul Thomas Anderson überrascht Daniel Day-Lewis Karriereende nicht

    FILMSTARTS: Warst du eigentlich überrascht von Daniel Day-Lewis‘ Entscheidung, seine Karriere zu beenden? Und kannst du ihn verstehen?

    Paul Thomas Anderson: Ja, ich kann seine Entscheidung schon verstehen und ich war auch nicht vollkommen überrascht. Wenn man sich über die Jahre seine Drohungen, mit dem Schauspiel aufhören, anschaut oder auch nur auf die langen Pausen zwischen den Drehs guckt, war es fast schon so, als sei er bereits ausgestiegen [vor „Der seidene Faden“ spielte Day-Lewis zuletzt 2012 in Steven Spielbergs „Lincoln“]. Man hörte immer wieder fünf, sechs Jahre nichts von ihm und dann kam er zurück.

    FILMSTARTS: Reynolds Woodcock hat im Film seine ganz eigenen Rituale, die er streng befolgt. Hast du auch bestimmte Abläufe oder gar Ticks beim Drehen, die du nie änderst?

    Paul Thomas Anderson: Eigentlich nicht. Aber die Arbeit ist so unberechenbar, die Arbeitstage sind so lang. Man arbeitet vielleicht bis 23.00 Uhr und muss um 5.00 Uhr morgens schon wieder raus - und das Tag für Tag. Man versucht einfach, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich habe da nur Kleinigkeiten, die ich immer mache, aber nichts Seltsames oder Verrücktes. Ich klopfe nicht zwei Mal auf den Tisch oder sonst was Sonderbares. Morgens, wenn ich mich auf das Schreiben vorbereite, hole ich mir einen Kaffee und richte mich in meinem Umfeld mental ein. Hhm, was noch? [überlegt] Es ist kein Aberglaube, aber manchmal wechsele ich die Klamotten nicht, die Unterwäsche natürlich schon, aber dann hast du so viel zu tun und im Kopf, dass dir Kleinigkeiten wie das Aussuchen der Kleidung am Morgen so lächerlich vorkommt. Du legst einfach die Hose vor dem Schlafengehen neben das Bett und ziehst sie wieder an, wenn du aufgewacht bist.

    FILMSTARTS: Denkst du nach dem Film etwas anders über die Welt der Mode? Ich habe gehört, du wollest diese ursprünglich aus filmischen Gründen erkunden? Wie hast du das Projekt entwickelt?

    Paul Thomas Anderson: Es gab so viele Gründe, den Film zu machen. Einer davon: Du hast diesen Mann, der so eine komplizierte Beziehung zu Frauen als romantischen Partner hat, der aber wiederum geradezu umringt ist von Frauen, die seine Arbeit und Ideen ausführen. Dann ist da seine Schwester, die die Geschäfte des Fashionlabels leitet und der Geist seiner verstorbenen Mutter, der immer über allem schwebt. Das ist ein einzigartiger Ansatz innerhalb der Modebranche. Heutzutage vielleicht nicht mehr so sehr. Nach all dem, was ich hinter den Kulissen gesehen habe, sind da mehr Männer, beziehungsweise eine Mischung aus Männern und Frauen, aber in den 1950ern waren es die Frauen, die diesen Beruf dominiert haben.

    FILMSTARTS: Kanntest du dich in der Welt der Mode aus?

    Paul Thomas Anderson: Nein, nicht wirklich. Ich habe einige Dokumentationen geguckt und Heidi Klums „Project Runway“ geschaut. [lacht] Ich musste wirklich eine Menge von Grund auf lernen und auch Selbstverständlichkeiten nachschauen. Das war eine komplett fremde Sprache für mich. Aber ich habe mir Hilfe geholt und gelernt. Wir sind zum V & A [Victoria and Albert Museum] gegangen. Die Leute haben sich sehr, sehr viel Zeit genommen, mir zu helfen. „Erklärt es mir, als wenn ich fünf Jahre alt wäre“, sagte ich. Und das hat funktioniert.

    Es gibt viele selbstsüchtige Kreative

    FILMSTARTS: Muss man ein außergewöhnliches, ausschweifendes Leben führen, um kreativ zu sein? Und wie siehst du dich da selbst?

    Paul Thomas Anderson: Ich weiß nicht. Ich will das nicht romantisieren. Es muss möglich sein, ein kreatives Leben zu führen, und dennoch Platz für andere Menschen zu lassen. Ich vermute aber schon, dass es da eine ganze Menge Beispiele von Kreativen gibt, die das komplett anders handhaben. Die sich privilegiert fühlen, weil sie kreativ sind und denken, sie könnten andere Menschen behandeln, wie immer sie möchten. Es gibt einen Haufen von meistens Männern, die eine lange Reihe von Kindern, Liebhaberinnen und Frauen hinter sich herziehen, die unter ihrer Selbstsucht leiden. Das ist beschissen! Als Figur finde ich das interessant, aber doch nicht in meinen eigenen Leben. Ich habe eine Familie [Anm. der Red.: er hat vier Kinder mit Schauspielerin Maya Rudolph], die mir mehr bedeutet, als Filme zu machen.

    Universal Pictures

    FILMSTARTS: Im Film dauert es eine Weile, bis wir erfahren, wer Alma ist. Sie redet zunächst als Erzählerin in der Vergangenheitsform. Warum hast du diesen speziellen Ansatz gewählt?

    Paul Thomas Anderson: Es ist ein Mittel, ein bisschen billig, gebe ich zu. Man sieht es immer und immer wieder in diesem Genre der gotischen Romanze, zum Beispiel in den Büchern von Daphne du Maurier, Caroline Blackwood oder Shirley Jackson, aber auch in einigen von Alfred Hitchcocks Arbeiten wie „Rebecca“. Die Frauen beginnen die Geschichte als Erzählerinnen und wirbeln mit Vergangenheit und Gegenwart herum. Man versucht immer, die Zuschauer unter Spannung zu halten, egal, ob sie das nun mitbekommen oder nicht. Wir lernen aber auch unsere Helden einfach besser kennen, welche hier übrigens Alma ist, und sehen die Geschichte hoffentlich durch ihre Augen. Das war hier superwichtig. Wenn man Daniel [Day-Lewis] als Schauspieler im Film hat, dann hat er eine solch unglaubliche Präsenz, da erwarten die Leute einfach, dass er ihr Held oder der Protagonist ist. Aber für mich ist er das nicht, „Der seidene Faden“ ist Almas Geschichte. Um dem Publikum das klar zu machen, habe ich dieses Mittel benutzt. Reynolds Woodcock ist eine Figur, die sich innerhalb der ersten 30 Minuten offenbart: Ich werde nicht heiraten, ich werde dies nicht machen, ich werde das nicht essen, dies nicht trinken. Da gibt es keinen Ort mehr, wo ich den Charakter hinführen könnte. Aber wenn du dann diese Frau mit dem hübschen Gesicht hast, das du nie zuvor gesehen hast, fragst du dich: „Wie kann das funktionieren, dass er seine engstirnigen Ansichten ändert?“

    Vicky Krieps ist Paul Thomas Andersons Entdeckung des Films

    FILMSTARTS: Was hat dich genau am Genre der gotischen Romanze gereizt?

    Paul Thomas Anderson: Ich weiß auch nicht. Ich wollte das Genre nicht dekonstruieren. Ich habe mir diese Frage tatsächlich nie selbst gestellt, ich mag diese Geschichten einfach. Außerdem wollte ich schon immer einen Film in Großbritannien drehen, diese gotischen Romanzen gehören hierher und spielen normalerweise in diesem Land. Dann hatte ich dieses Verlangen, mit Daniel zu arbeiten und ihn dazu zu bringen, nach langer Zeit mal wieder einen Engländer zu spielen. Das hat uns hierher geführt.

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    FILMSTARTS: Du hast es selbst gesagt, Alma ist deine Hauptfigur. Wie hast du die international noch weniger bekannte Schauspielerin Vicky Krieps gefunden?

    Paul Thomas Anderson: Zwei Dinge sind nacheinander passiert. Ich habe auf iTunes einen Film entdeckt, den sie gemacht hat, „Das Zimmermädchen Lynn“ [aus dem Jahr 2014], ein kleiner deutscher Film. Parallel hat der Casting Director gesucht, es war ein weites Netz, was wir ausgeworfen haben. Osteuropäerinnen, vielleicht sogar Skandinavierinnen wären möglich gewesen… aber dann kamen ihre Probeaufnahmen herein, kurz nachdem ich „Das Zimmermädchen Lynn“ gesehen hatte, und dann ging alles ganz schnell. Es war sowas von klar, dass sie die richtige Person für den Job war. Und wir hatten absolut Recht.

    FILMSTARTS: Hatte Vicky Krieps am Anfang Angst vor der Präsenz von Daniel Day-Lewis?

    Paul Thomas Anderson: Das könnte sein - und ich bin sicher, dass sie zumindest beeindruckt war. Daniel kann sehr einschüchternd wirken, er ist ein großer Schauspieler. Für viele Menschen ist es einschüchternd, in eine solche Situation einzusteigen. Aber die beiden haben sehr schnell einen Weg gefunden, diese Befangenheit abzulegen. Sie ist sehr, sehr tough in vielen Dingen - wie Alma ja auch. Vicky steckt nicht zurück, sie findet einen Weg zu überleben und am Ende zu gewinnen. Sie ist eine großartige Schauspielerin.

    Die Unterschiede zwischen „There Will Be Blood“ und „Der seidene Faden“

    FILMSTARTS: Kannst du dein Arbeiten mit Daniel Day-Lewis an „Der seidene Faden“ und „There Will Be Blood“ vergleichen? Damals hattet ihr eine Buchvorlage, mit der ihr arbeiten konntet, und hier hast du das Drehbuch und die Geschichte zusammen mit ihm entwickelt.

    Paul Thomas Anderson: Das war gar nicht der größte Unterschied. Im ersten Film, den wir zusammen gemacht haben, waren alle Entscheidungen seiner Figur praktischer Natur. Du bist draußen im Westen, bohrst nach Öl, du triffst keine Entscheidung über Mode oder ins Theater gehen, du triffst nützliche Entscheidungen, die dir helfen, nicht zu sterben. In „Der seidene Faden“ geht es um Status, persönlichen Geschmack, Kunst, Kunden und Konsumenten. Bei „There Will Be Blood“ mussten wir nur darauf achten, in der Wüste zu überleben und Öl aus dem Boden zu bohren. Hier hatten wir eine wahnsinnige Arbeit damit, Details auszustatten, wir mussten Gläser und Besteck, Socken, Schuhe und Ausstattung auf der ganzen Welt zusammensammeln.

    FILMSTARTS: … weil alles etwas über die Figur des Reynolds Woodcock aussagt …

    Paul Thomas Anderson: … genau. Es ist sein Geschäft.

    FILMSTARTS: Du hast mit einer Menge großer Schauspieler gedreht. Arbeitest du immer gleich oder passt du deinen Stil, Regie zu führen, ein Stück weit an sie an?

    Paul Thomas Anderson: Du passt dich an sie an, damit sie sich an dich anpassen können. Das Wichtigste: Wir müssen uns am Anfang in die Augen sehen können und uns darüber einig sein, wie wir es anpacken. Aber im Detail gibt es natürlich Unterschiede. Zum Glück arbeite ich immer mit Schauspielern zusammen, die es mögen, so viele Takes zu drehen, wie tatsächlich nötig sind. Und ich mag es, viele Takes zu drehen, keine wahnsinnige Summe, aber schon eher viele. Und sie mögen es. Keiner von ihnen probt sehr gern. Das ist etwas Gutes. Aber es ist mir auch egal. Wenn jemand üben möchte, würde ich das für den Schauspieler machen. Kein Problem. Aber manchmal muss man sich einfach um die Schauspieler kümmern, wenn sie mehr proben wollen, als es gut ist. „Du bist jetzt nervös geworden. Das ist nicht nötig.“ Wir arbeiten als Freunde zusammen, es gibt niemals einen Moment, wo ich denke, ich zeige ihnen als Regisseur meine Methode, wie es gemacht wird. So ist das überhaupt nicht. Und du bist ja nicht allein, eine Crew steckt dahinter. Ich versuche nur, alle Bälle in der Luft zu halten.

    Paul Thomas Anderson: Oscars helfen phänomenal

    FILMSTARTS: „Der seidene Faden“ ist für sechs Oscars nominiert. Wie wichtig ist dir das? Oder ist das nur irgendein Preis? Und ändert das deine Herangehensweise ans Filmemachen?

    Paul Thomas Anderson: Das ändert nicht meine Einstellung zu irgendwas, aber es ist eine erstaunliche Sache - aus den offensichtlichen Gründen. Jetzt werden den Film mehr Leute sehen. Wir werden länger in den Kinos gespielt, am Ende sind wir rund drei Monate auf der Leinwand. Nun kommt der Film in Europa heraus, ist überall auf großen Plakaten in Städten wie London zu sehen und erregt die Aufmerksamkeit der Menschen, große Aufmerksamkeit. Ich habe mehr SMS-Nachrichten bekommen, als ich die Oscarnominierung erhalten habe, als damals, als meine Kinder geboren wurden. [lacht] Es interessiert die Leute wirklich. Außerdem ist es für das Studio, das den Film bezahlt, wichtig. Es fühlt sich auch für mich gut an, wahrgenommen zu werden. Absolut. Im ganz praktischen Sinne, die Leute dazu zu bewegen, ins Kino zu gehen, ist es phänomenal hilfreich.

    FILMSTARTS: Daniel Day-Lewis soll bei seiner ersten Begegnung mit Vicky Krieps als Alma in seiner Rolle als Reynolds Woodcock geblieben sein. Ist das nicht anstrengend für einen Regisseur?

    Paul Thomas Anderson: Nein, eigentlich nicht. Oder doch? [windet sich, überlegt] Du kannst Versuchen, den Take beim allerersten Mal hinzubekommen, aber es ist nicht notwendig. Du kannst es immer und immer wieder versuchen. Wenn du die Chance beim Drehen auf ein erstes Aufeinandertreffen hast, nimmst du sie. Aber wenn’s nicht klappt, probierst du es einfach noch einmal. Aber diese Situationen klappen meistens, weil alle hochkonzentriert sind, ganz genau aufpassen, weil sie fühlen, dass es wichtig ist. Fehler geschehen eher in der Mitte der Dreharbeiten, wenn alle schon müde sind und ein bisschen fauler werden. Aber am Anfang, wenn alle aufgeregt sind, beeindrucken und Stärke zeigen wollen, bekommt man die entscheidenden Momente meistens schnell hin.

    FILMSTARTS: Denkst du eigentlich gerade über ein neues Projekt nach?

    Paul Thomas Anderson: Im Moment tatsächlich nicht. Irgendwann schon, aber nicht jetzt.

    „Der seidene Faden“ läuft seit dem 1. Februar 2018 in den deutschen Kinos.

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