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    The Childhood Of A Leader
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Childhood Of A Leader
    Von Jennifer Ullrich

    In seinem preisgekrönten Historiendrama „Das weiße Band“ richtet der österreichische Regisseur Michael Haneke seinen Blick auf einen fiktiven Ort in Norddeutschland. Im von Misstrauen und Demütigungen dominierten Dorfalltag am Vorabend des Ersten Weltkriegs leiden besonders die unter autoritärer Knute heranwachsenden Kinder, die Jahre später über die Zukunft des Landes bestimmen – mit den bekannten verheerenden Auswirkungen. „Was macht den Menschen zum Monster?“, dieser Frage, die unausgesprochen über Hanekes Film steht, widmet sich nun auch der 28-jährige Amerikaner Brady Corbet in seinem ambitionierten Drama „The Childhood Of A Leader“. Der bisher vor allem als Schauspieler bekannte Filmemacher versucht sich in seinem Langfilmdebüt als Regisseur und Drehbuchautor am düsteren Psychogramm eines Kindes auf dem Weg zum faschistischen Staatsmann. Die Inspiration für seinen Film fand Corbet in Jean-Paul Sartres Kurzgeschichte „L’enfance d’un chef“ von 1939, aber das Thema erweist sich im Lichte des aktuellen globalen politischen Rechtsrucks als weiterhin erschreckend zeitlos. „The Childhood Of A Leader“ überzeugt durch eine beklemmende, geradezu fatalistische Atmosphäre, aber vor allem zeigt Brady Corbet keinerlei Furcht vor menschlichen Abgründen und legt so die Wurzeln des Bösen offen. Seine Kombination aus analytischer Schärfe und formaler Klarheit erinnert wiederum an die Werke Michael Hanekes, bei dem sich der junge Amerikaner womöglich einiges abgeschaut hat, als er für ihn bei „Funny Games U.S.“ vor der Kamera stand.

    Der kleine Prescott (Tom Sweet) lebt 1919 mit seinen Eltern in Frankreich – dort arbeitet sein Vater (Liam Cunningham), ein US-Diplomat, mit anderen Regierungsvertretern an den Entwürfen für die Friedensverträge von Versailles. Seine streng gläubige Mutter (Bérénice Bejo) widmet dem vereinsamten, isolierten Jungen derweil ebenfalls kaum Aufmerksamkeit, nur die Haushälterin Mona (Yolande Moreau) und eine Privatlehrerin (Stacy Martin) kümmern sich ein wenig um ihn. Der vernachlässigte Prescott legt vermehrt launisch-aggressive, häufig auch manipulative Verhaltensweisen an den Tag, worauf die Eltern wiederum mit körperlicher und psychischer Härte reagieren. Es kommt zu einem innerfamiliären Machtkampf.

    Kinderherzen sind rein und unschuldig, so jedenfalls denken wir uns das gemeinhin. Aber nichts täuscht so sehr wie die Engelsflügel, die der junge Protagonist Prescott bei seinem ersten Auftritt trägt, als er auf seinen Einsatz bei einem weihnachtlichen Krippenspiel wartet. Schon unmittelbar nach der Theaterprobe bewirft er eine Gruppe Kirchenbesucher ohne erkennbaren Grund mit Steinen – und als Prescott sich kurz darauf beim Pater entschuldigen muss, zeugen die großen Kulleraugen des fantastischen Newcomers Tom Sweet von Teilnahmslosigkeit, wenn nicht gar von fehlendem Schuldbewusstsein. Ganz schnell wird klar, dass dieser Junge unberechenbar ist und mehr als das: Wenn etwa in Prescotts Traum ein Moment aus der Zukunft vorweggenommen wird, dann gibt es dafür keine rationale Erklärung und wir befinden uns auf dem Terrain des Unheimlichen. Und angesichts der dämonischen Fratze, die der junge Protagonist immer wieder offenbart, ist der Gedanke an einen Gruselklassiker wie „Das Omen“ und seine diabolische Kinderfigur nicht mehr allzu weit entfernt.

    Während die Mutter ihren Sprössling mehrmals am Tag zum Beten animiert, wartet der Sohnemann beim Zu-Bett-Gehen vergeblich auf einen Gute-Nacht-Kuss. Alle predigen ihm die Bedeutung von Verzeihen, Rücksicht und Güte, aber seine persönlichen Erfahrungen beißen sich mit jenen wohlklingenden Worten. Vielmehr meint er zu begreifen, dass seine Wünsche nur Wirklichkeit werden können, wenn er andere beherrscht. Bei diesem Prozess fällt Stacy Martin („Nymphomaniac“) als Tutorin eine tragende Rolle zu, die mit ihren femininen Reizen eine starke Faszination auf den Knaben ausübt. Einmal begutachtet Prescott während des Unterrichts sekundenlang ihre rechte Brustwarze, die sich unter der Bluse abzeichnet, und am nächsten Tag fasst er der Lehrerin schließlich - zu deren Schock - unvermittelt an den Busen: harmlose Neugier oder eher kleine Machtdemonstration? Kurz darauf erwischt der Junge die Frau bei einer Heimlichtuerei mit dem Vater im Schlafzimmer, den er beim Abendessen prompt in Gegenwart der Mutter bloßstellt. Prescott spielt die Eltern gegeneinander aus und zeigt dabei ein beängstigendes manipulatives Geschick.

    Schon für sich genommen sorgen die präzise geschilderten Ereignisse im Schoß der Familie für nachhaltige Verunsicherung und Irritation, ihre ganze Wirkung entfalten sie aber erst durch Brady Corbets geschickte Inszenierung. Seine klar strukturierten Bilder und die altmodisch entsättigten Farben lassen Raum für das schleichende Gift all jener dunklen Regungen, die Worte nicht erklären können – es entsteht eine bedrückende Atmosphäre schwer greifbarer Verzweiflung in einer zugleich nach- und vorkriegsgebeutelten Welt: Der Vertrag, der den Frieden bringen soll, trägt die nächste Katastrophe schon in sich und das vermeintlich unschuldige Kind wird zu einem gefährlichen Kriegstreiber. Die Entwicklung zeichnet Pop-Legende Scott Walker („Joanna“) mit seinem dominanten Soundtrack nach, bis sich die Musik schließlich in einem regelrechten orchestralen Inferno entlädt. Und als Bonus wartet Robert Pattinson („Die versunkene Stadt Z“) in einer faszinierenden Doppelrolle…

    Fazit: In seinem furchtlos-finsteren Regiedebüt „The Childhood Of A Leader“ durchforstet Brady Corbet die düstersten Ecken der menschlichen Psyche.

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