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    Ich sehe was, was du nicht siehst
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Ich sehe was, was du nicht siehst

    Einer der besten Filme von Wes Anderson kommt zu Netflix

    Von Janick Nolting

    Wes Anderson und Roald Dahl sind einfach eine Kombination, die bestens zueinander passt. Das Ineinanderfließen von trockenem Humor, garstiger Sozialkritik und dem dennoch liebevollen Märchenonkel-Duktus von Dahls literarischen Werken hat Anderson schon einmal bestens adaptiert. Nach „Der fantastische Mr. Fox” folgt nun die nächste Dahl-Verfilmung und die hat es in sich! Zwar gehört „Ich sehe was, was du nicht siehst” mit einer Laufzeit von nur 39 Minuten zu den kürzeren Werken des Regisseurs, doch die sind so vollgepackt mit ästhetischen Spielereien, erzählerischen Schichten und Gags, dass man im Anschluss direkt das Bedürfnis hat, den Film noch einmal zu sehen. Es ist Andersons bester Film seit „Isle Of Dogs – Ataris Reise” und überhaupt ein kleiner Höhepunkt seines langjährigen Schaffens.

    Dabei hatte man gerade nach „Asteroid City” schon das Gefühl, Wes Anderson habe sich endgültig in eine Sackgasse manövriert. Aus, Schluss, keine substanziellen Ideen mehr, kaum etwas, mit dem sich noch interessant und erhellend auf die Gegenwart reagieren ließe. Stattdessen ein einziges Feilen an audiovisuellen Tricks und inszenatorischen Meta-Ebenen, die allein über ihre eigene Konstruktion nachdenken und immer tiefer in sich selbst abtauchen. In „Ich sehe was, was du nicht siehst” wendet sich Anderson nun wieder deutlicher einem klassischen Erzählkino zu, ohne auf seine vielschichtigen, mittlerweile perfektionierten ästhetischen Exzesse verzichten zu müssen. Form und Inhalt gehen Hand in Hand.

    Henry Sugar findet ein Buch, das sein Leben verändert.

    „Ich sehe was, was du nicht siehst” ist überdies Teil einer regelrechten Roald-Dahl-Offensive von Netflix. 2021 hat der Streaming-Dienst die Roald Dahl Story Company erworben. Schon damals wurde gleich eine ganze Reihe an Neuverfilmungen der berühmten Kinderbücher angekündigt. Wes Andersons Beitrag zu diesem Unterfangen legt die Messlatte nun jedenfalls besonders hoch. Für seinen Kurzfilm schöpft er inszenatorisch aus dem Vollen und macht gewissermaßen dort weiter, wo das theatrale Spiel an dem TV-Set von „Asteroid City” endete.

    Roald Dahl darf dabei sogar selbst auftreten (gespielt von Ralph Fiennes). In einer beschaulichen Stube sitzt Dahl in seinem Sessel, spitzt den Stift und bringt Unglaubliches zu Papier. Henry Sugar (Benedict Cumberbatch), der Protagonist seiner Erzählung, ist ein eitler, gieriger Mann. Eines Tages stößt er auf ein Buch, in welchem der Arzt Dr. Chatterjee (Dev Patel) die Geschichte des sagenhaften Imrat Khan (Ben Kingsley) niedergeschrieben hat. Khan zog mit einer Theatertruppe umher und konnte dank der Lehre eines mächtigen Yogis ohne seine Augen sehen. Henry ist ganz begeistert von dieser Geschichte. Fortan beginnt er mit dem Training, um selbst von der sonderbaren Gabe profitieren zu können.

    Temporeiches Kulissenschieben

    Anderson inszeniert all das mit großer Werktreue zum Ursprungstext. Er lässt seine Darsteller den Text von Roald Dahl in einem irren Tempo in die Kamera plappern, sodass man aus dem Staunen kaum herauskommt, dass dabei nicht alle paar Sätze ein Versprecher folgt. „Ich sehe was, was du nicht siehst” denkt die imaginäre vierte Wand durchlässig. Immer wieder schauen seine Figuren in die Kamera, als würden sie auf Reaktionen des Publikums oder ihren Einsatz warten. Alles andere ist in Bewegung. Permanent werden Kulissen hin- und hergeschoben. Arbeiter tragen Requisiten ins Bild, man kann dabei zusehen, wie die Darsteller geschminkt werden und sich in ihre jeweiligen Figuren verwandeln (mit großer Spielfreude wechseln fast alle zwischen mehreren verschiedenen Rollen). Auf Schienen bewegt sich die Kamera hin und her, filmt von einem Set zum nächsten, während sich Räume auf verblüffende Weise verwandeln.

    „Ich sehe was, was du nicht siehst” durchkreuzt somit regelmäßig die eigene Illusion und lässt das Publikum an ihrer Entstehung teilhaben. Gerade hat man sich in ihre detailverliebten Bilder versenkt, da folgt auch schon der nächste Bruch. Anderson bedient sich der Techniken des epischen Theaters von Bertolt Brecht, darunter jener des doppelten Zeigens: Darsteller erklären und führen vor, was sie gleich vorführen werden. Warum dann nicht gleich Theater, anstatt den Umweg über den Film zu wagen? Diese Frage drängt sich inzwischen bei Wes Anderson immer stärker auf. Ganz einfach! Weil beides in seinen Mitteln kaum zu trennen ist und weil Anderson genau versteht, wie sich beide Welten befruchten können. Sein kongeniales Spiel mit den Tricks der filmischen Illusion, mit Verführung und Enttäuschung braucht all die Brüche, weil es ihr darum geht, sein Publikum ins Denken zu versetzen, statt sich allein an hermetisch abgeriegelten Bildern zu erfreuen.

    Kann Imrat Khan wirklich ohne Augen sehen? Noch zweifeln die Ärzte.

    Andersons Kurzfilm mutet zunächst wie ein recht harmlos pointiertes Schelmenstück an. In seinen Zwischentönen blitzt jedoch eine erstaunlich nachdenkliche Weisheit durch. So sehr man über die Schrulligkeit all der überbordenden Effekte lachen mag: In diesen schnell vorbeiziehenden Szenenfolgen gibt es mehrere eindringliche Momente, die einen plötzlich stocken lassen. Etwa dann, wenn das Wunder des Sehens ohne Augen plötzlich einen tristen Blick auf die Welt offenbart. Die Euphorie darüber kann sich selbst nicht so ganz trauen.

    So wird beispielsweise der eigene Körper als beunruhigend transparente Maschine offenbar. Plötzlich wird der von Benedict Cumberbatch gespielte Henry Sugar per animiertem Röntgenbild ein gläserner Mensch, in dessen Innern das biologische Kraftwerk arbeitet. Wenn man alles jederzeit sehen könnte, alles erkennbar und berechenbar würde - welchen Zauber, welche Überraschungen birgt dann noch das Schreiten durch die Welt? Auch dafür braucht es die Fusion von Film und Theater: in der Begrenzung des Blicks. Und Wes Andersons immenses Talent braucht es, um solche kleinen, nur auf den ersten Blick unscheinbaren philosophischen Denkstücke in ganz hinreißende, nachhallende Tragikomik zu tauchen.

    Fazit: Wes Anderson gelingt in seinem Kurzfilm erneut ein virtuoses Spiel mit den Mechanismen und Wirkungen seiner Kunst. „Ich sehe was, was du nicht siehst” verhandelt das titelgebende Sehen auf verblüffende Weise und schafft einen Höhepunkt in Andersons Karriere.

    Wir haben „Ich sehe was, was du nicht siehst“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er außer Konkurrenz seine Weltpremiere gefeiert hat.

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