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    Elle
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Elle
    Von Christoph Petersen

    Was für ein Comeback!!! Nach seinem packenden Nazi-Thriller „Black Book“ von 2006 schien die Karriere von Paul Verhoeven bereits vorüber, immerhin fielen in der vergangenen Dekade abgesehen von seinem Crowdsourcing-Experiment „Tricked“ alle seine begonnenen Projekte wieder in sich zusammen oder wurden wie „The Paperboy“ letztlich von anderen Regisseuren umgesetzt. Aber da haben einige den Niederländer offensichtlich zu früh abgeschrieben: Mit der im Wettbewerb von Cannes uraufgeführten Romanverfilmung „Elle“ liefert der inzwischen 77-Jährige mit seinem ersten französischsprachigen Werk noch einmal einen der besten Filme seiner an Meisterwerken nicht gerade armen Karriere (inklusive der 5-Sterne-Filme „Basic Instinct“ und „Total Recall“)! Der ebenso intelligente wie abgefahrene Rape-&-Revenge-Arthouse-Film begeistert nicht nur durch seine provokant-progressive, elegant-verspielte Art, sondern vor allem auch mit einer – mal wieder – alles überragenden Isabelle Huppert, die hier eine der faszinierendsten und überraschendsten Frauenfiguren der Thriller-Geschichte auf die Leinwand zaubert.

    Michelle (Isabelle Huppert) wird in ihrer Villa von einem Einbrecher mit Skimaske vergewaltigt, aber sie wendet sich nicht an die Polizei – mit der hatte sie schon als Zehnjährige schlechte Erfahrungen gemacht, als ihr Vater eines Tages massenmordend durch die Nachbarschaft gezogen ist. Ihrer besten Freundin und Geschäftspartnerin Anna (Anne Consigny) sowie ihrem Ex-Mann Richard (Charles Berling) erzählt die wohlhabende Computerspiel-Unternehmerin bei einem Abendessen im Restaurant ganz trocken von der Sache – kein großes Ding, nur das Köpfen des schon bestellten Champagners wird für ein paar Minuten verschoben. Es scheint fast so, als würde Michelle mit der Vergewaltigung genauso pragmatisch und schlagfertig umgehen wie mit allem anderen in ihrem Leben. Aber dann schickt ihr der Eindringling plötzlich auch noch anzügliche SMS…

    Selbst mit 77 Jahren lotet Paul Verhoeven, der nicht nur mit dem damals missverstandenen „Starship Troopers“ seiner Zeit voraus war, die Grenzen seiner Kunst noch immer konsequenter aus als die allermeisten seiner jüngeren Kollegen – daran hat sich in drei Jahrzehnten seit der Gewalt-Satire „RoboCop“ nichts geändert. Den ersten und größten Reizpunkt setzt der Regisseur diesmal direkt mit seiner komplexen, schwer zu fassenden Hauptfigur: Michelles Pragmatismus erscheint dem Publikum als die pure Provokation, etwa wenn sie nur einen Tag nach der Vergewaltigung ihren Game-Designern im Meeting befiehlt, dass die Heldin des aktuellen Spiels beim Angriff eines Tentakelmonsters unbedingt noch viel orgiastischer zucken muss. Isabelle Huppert („Die Klavierspielerin“) verkörpert Michelle konsequenterweise nicht als Opfer, sondern als selbstbewusste, schlagfertige, trockenhumorige, ihren (männlichen) Gegenübern nicht nur intellektuell überlegene, aber mitunter auch ganz schön abgefuckte Frau, die sich durchzusetzen weiß und sich nimmt, was sie will …

    … und was das genau ist, macht die Provokation endgültig perfekt - und wird einem Teil des Publikums ganz schön sauer aufstoßen! Überraschenderweise waren es nach der Cannes-Pressevorführung auf dem Flur vornehmlich männliche Kollegen, die „Elle“ Frauenfeindlichkeit vorwerfen – und es wird rund um den Kinostart sicherlich eine Menge feurige Meinungstexte geben, in denen es genau um diese Frage gehen wird. Aber es ist eben eine der größten Stärken des Films, dass er zu keinem Zeitpunkt vorhersehbar ist – und damit meinen wir weniger, dass er uns mit unerwarteten Handlungswendungen überrascht, als vielmehr die erzählerischen und inszenatorischen Freiheiten, die Verhoeven sich nimmt. Da kann es durchaus passieren, dass er einfach mal kurz komplett das Genre wechselt, wenn es ihm gerade passt. Deshalb an dieser Stelle erst einmal ganz ohne Spoiler nur so viel: Wenn es sowas wie einen feministischen Rape-&-Revenge-Film überhaupt geben kann, dann ist „Elle“ der erste, der dieses Prädikat verdient!

    Und jetzt auch noch mal mit Spoilern: Die Identität des Skimaskenmannes wird im Film unerwartet früh gelüftet – und sie ist auch keine wirkliche Überraschung. Aber statt ihn der Polizei zu melden oder sich nach den Regeln des Genres an ihm zu rächen, beginnt Michelle eine Affäre mit dem Mann und lässt sich wiederholt im Rahmen von (nur halb gespielten) Rollenspielen von ihm vergewaltigen. Mit diesem Ausloten gerade noch erträglicher Leidenschaften und Perversionen wird „Elle“ immer mehr zur herrlich absurden, erschreckend komischen Groteske – ab hier erinnert der Film dann auch weniger an Exploitation-Vorbilder als viel eher an die bissig-schwarzen Gesellschaftssatiren von Claude Chabrol („Süßes Gift“). Michelle erscheint dabei nie als willige Mitwirkende von Männerfantasien (ihren Exmann hat sie verlassen, weil er sie geschlagen hat) und sie ist auch keine sexy Fetischrächerin wie in den meisten Filmen mit ähnlicher Thematik üblich – sondern sie bleibt immer eine selbstbewusste, ambivalente und vor allem konsequent aus der ihr von der Gesellschaft zugedachten Rolle fallende Frau.

    Fazit: Paul Verhoevens „Elle“ ist ein brillant-abgründiges, progressives, sauvergnügliches Spiel mit den Regeln des Thriller-Genres, der Rolle der Frau und dem guten Geschmack – anspruchsvoll, nie vorhersehbar und bis zur Schmerzgrenze politisch unkorrekt.

    Wir haben „Elle“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wurde.

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