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    The Book Of Henry
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    The Book Of Henry
    Von Thomas Vorwerk

    Als Colin Trevorrow („Jurassic World“) Anfang September 2017 den Regiestuhl beim noch unbetitelten „Star Wars 9“ für J.J. Abrams räumen musste, kam das nicht für alle Außenstehenden völlig überraschend. Schon nach der Premiere seines bis dahin neuesten Werks im Juni des Jahres waren Stimmen lautgeworden, dass ein Regisseur, der so einen schlechten Film abliefere, nicht für das wohl größte Franchise der Welt geeignet sei. Diese Unkenrufer mögen sich jetzt bestätigt fühlen, aber es gibt natürlich keinen erwiesenen Zusammenhang zwischen der vermeintlich fehlenden Qualität von Trevorrows „The Book Of Henry“ und dem „Star Wars“-Aus des Filmemachers, zumal die Disney-Verantwortlichen das umstrittene Werk bereits Monate vorher gesehen haben. Dennoch lassen die vielen extrem negativen Kritiken aufhorchen (bei den Kritikensammlern von Metacritic liegt „The Book Of Henry“ nur bei einem Wert von 31 von 100). Tatsächlich ist der Film ein recht wilder und holpriger Genremix und erzählerische Defizite sind unverkennbar. Aber das mit Elementen des Thrillers und diverser anderer Genres angereicherte Familiendrama entpuppt sich vor allem als faszinierendes, ebenso ambitioniertes wie eigenwilliges Werk. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem emotionalen und unterhaltsamen Filmerlebnis belohnt. Man darf nur keinen blütenreinen Psychothriller erwarten, wie ihn der Trailer suggeriert.

    Der elfjährige Henry Carpenter (Jaeden Lieberher) ist ein in seiner Gemeinde akzeptiertes und bewundertes Wunderkind, das seinen kleineren Bruder Peter (Jacob Tremblay, „Raum“) vor Bullys bewahrt, der alleinerziehenden Mutter (Naomi Watts) beim Haushalt und der Buchführung hilft und nebenbei auch noch erfolgreich Börsengeschäfte tätigt. Er ist ein wenig in seine nebenan wohnende Mitschülerin Christina (Nachwuchstänzerin Maddie Ziegler) verschossen, beim Blick durchs Kinderzimmerfenster kommt ihm aber der schreckliche Verdacht, dass das allein mit seinem Stiefvater, dem örtlichen Sheriff Glenn Sickleman (Dean Norris aus „Under the Dome“) lebende Mädchen missbraucht wird. Nach einer jeweils nicht fruchtenden Beschwerde bei der Schuldirektorin und einem Anruf bei der Notruf-Hotline für solche Fälle (der beauftragte Sozialarbeiter ist der Bruder des Sheriffs) fasst Henry den Entschluss, Christina zu retten und beginnt seine Recherchen für einen perfekten Mord...

    Abgesehen von seinen Mordplänen ist Henry fast schon zu perfekt für diese Welt, doch der bereits in „Midnight Special“ aufgefallene und nun auch in „Es“ glänzende Jaeden Lieberher meistert diese schwierige „Gutmenschen“-Rolle mit Bravour. In seinem offenbar selbstgebauten geräumigen Baumhaus bastelt Henry an Experimenten, eine Hochbegabtenschule lehnt er ab, um den Bezug zu seinen Mitmenschen zu behalten, kurzum: Er ist so etwas wie eine junge Ausgabe des „Big Bang Theory“-Genies Sheldon Cooper - nur ohne die nervigen Ticks und dafür mit großer emotionaler Intelligenz gesegnet.

    Die erste Hälfte des Films wird von der etwas seltsamen, aber harmonischen und sehr unterhaltsamen Familienkonfiguration getragen: Die zuckersüßen Brüder sind zwar beide vielleicht einen Tacken zu vorbildlich, aber wie sie ihrer überforderten und nebenbei als Kellnerin arbeitenden Mutter Sarah (zuverlässig gut: Naomi Watts) beistehen und unter die Arme greifen, das ist einfach sympathisch und sichert den Figuren einen kleinen Bonus für die problematischere zweite Filmhälfte.

    Neben den bereits erwähnten Thriller-Elementen, dem Missbrauchsfall und der Familiengeschichte kommt im letzten Filmdrittel schließlich noch ein weiteres Genre dazu, einschließlich der dafür typischen dramatischen Extreme. Für einige Betrachter mag der ohnehin sehr gefühlige „Book Of Henry“ hier endgültig einem emotionalen Overkill erliegen und gerade die teils erstaunlichen Stimmungswechsel nagen zuweilen an der Glaubwürdigkeit des Films. Womöglich ist die Geschichte in ihren Grundzügen einfach zu perfekt konstruiert (ein ähnliches Problem wie beim fast makellosen Protagonisten): Wie bei einer Rube-Goldberg-Maschine, die eine Kettenreaktion aus Dominosteinen, Billardkugeln, Spiralen, Mausefallen und vielem anderen fabriziert, wird hier aus einer Komödie ein Familiendrama und dann ein Psychothriller, schließlich noch etwas anderes, ehe das Ganze dann märchenhafte Züge annimmt.

    Wenn Regisseur Colin Trevorrow und sein Drehbuchautor Gregg Hurwitz („V - Die Rückkehrer“), der hier unter anderem seine eigenen Erfahrungen als Familienvater verarbeitet, im Showdown zwei Erzählstränge in einer gewagten Parallelmontage aufeinanderprallen lassen, dann ist das Konstruierte und das Gewollte fast mit Händen zu greifen, doch gleichzeitig ist diese Zuspitzung im Rahmen des Films wiederum durchaus schlüssig. Anstatt auf eine generische Auflösung zu setzen, folgen sie ihrer eigenen Logik. Und das ist im risikoscheuen Hollywood unserer Zeiten aller Ehren wert.

    Fazit: „The Book Of Henry“ kommt mit einem schlechten Ruf nach Deutschland, aber das tut dieser komplett unerwarteten Mischung sehr unterschiedlicher Genres Unrecht. Wer über einige offensichtliche Schwächen hinwegsieht, der wird einen ungewöhnlichen und kurzweiligen Film voller Gefühl entdecken.

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