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    Tully
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Tully
    Von Carsten Baumgardt

    Ihren süßesten Triumph und zugleich auch ihren größten kommerziellen Erfolg feierten Jason Reitman und Diablo Cody bereits 2007, als ihre Indie-Komödie „Juno“ punktgenau den Zeitgeist traf und weltweit mehr als 200 Millionen Dollar einspielte. Nach dem weit weniger erfolgreichen „Young Adult“ arbeiten der „Thank You For Smoking“-Regisseur und die „Jennifer’s Body“-Autorin nun bei der Tragikomödie „Tully“ bereits zum dritten Mal zusammen. Dabei knüpft das eingespielte Duo weitgehend an die Stärken von „Juno“ an, wenn es die Geschichte der verblüffend authentisch aufspielenden Charlize Theron („Mad Max: Fury Road“) als dreifache Mutter bei der Bewältigung des Alltags am Rande des Nervenzusammenbruchs erzählt.

    Marlo (Charlize Theron) lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann Drew (Ron Livingston) in einem Vorort von New York. Der Alltag stresst sie zunehmend: Ihr jüngstes Kind ist noch im Babyalter und Sohn Jonah (Asher Miles Fallica) zeigt autistische Züge, was ihn im Privatkindergarten immer wieder in Schwierigkeiten bringt, weshalb die Rektorin ihn sogar loswerden will. Nur die achtjährige Tochter Sarah (Lia Frankland) fordert keine Extraaufmerksamkeit von Marlo, die mit ihren Kräften längst am Ende ist. Als ihr arroganter Bruder Craig (Mark Duplass) ihr vorschlägt, eine Night Nanny zu engagieren, lehnt Marlo zunächst empört ab. Aber schon bald ist die Verzweiflung so riesengroß, dass sie doch noch die ihr empfohlene Tully (Mackenzie Davis) anheuert: Die junge Frau schneit am späten Abend herein und kümmert sich nachts um das Baby. Marlo darf schlafen und wird nur zum Stillen geweckt. Dank der Entlastung blüht Marlo regelrecht auf und schöpft die nötige Kraft, um ihr Familienleben neu zu ordnen…

    Egal ob in „Up In The Air“ oder „#Zeitgeist“ – Jason Reitman war schon immer ein Regisseur, der zuerst einmal von Menschen, ihren Eigenheiten, Ticks und Problemen mit ihrer Umwelt erzählt, und wenn sich daraus dann wie nebenbei noch ein klassischer Filmplot entwickelt (wie etwa bei „Labor Day“), dann bleibt der meist nur Beiwerk. Das trifft nun auch auf „Tully“ zu, einem Familienporträt, in der das Leben und Leiden der Protagonistin feinfühlig auseinandergenommen wird, um dann zu beobachten, wie sie langsam wieder in die Spur zurückkommt.

    Reitman lässt sich dabei viel Zeit, um das Milieu der gehobenen Mittelklasse-Familie in gemächlichem Tempo zu etablieren. Es ist ein stetes Spannungsfeld, in dem Marlo unter Dauerstrom steht und die nächste Herausforderung des Alltags die eine zu viel sein könnte, die das gesamte Familienkonstrukt wie ein Kartenhaus zum Einsturz bringt. Erst wenn Night Nanny Tully, die Marlos Bruder Craig einmal sogar als „Ninja“ anpreist, mit ihrer unbändigen Energie, ihrer Güte und Hilfsbereitschaft wie ein Engel hinabsteigt, nimmt „Tully“ an Fahrt auf. Alles, was bisher so starr und eingefahren wirkte, kommt plötzlich in Bewegung – Marlo kann sich endlich befreien und es ist ebenso spannend wie befriedigend zu beobachten, wie sie die plötzlich aufpoppenden Möglichkeiten ausnutzt.

    Es ist erstaunlich berührend, wie die überforderte Marlo wieder langsam festen Boden unter den Füßen bekommt, nur weil sie irgendwann von ihrem hohen Ross herabsteigt und Hilfe zulässt. Charlize Theron („Fast & Furious 8“) ist hier ähnlich wie bei ihrem Oscarpart in „Monster“ absolut nicht zimperlich, wenn es darum geht, sich ihrer Rolle auch körperlich anzupassen: Das Ex-Supermodel wirkt absolut glaubhaft wie eine durchschnittliche dreifache Mutter um die 40. In einer Szene versucht Marlo, besser in Form zu kommen, sie wird aber bei ersten Joggingversuchen direkt von einer Mittzwanzigerin abgehängt, die an der schwerfällig trabenden Marlo mühelos wie eine Gazelle vorbeischwebt. Das packt sie am Ehrgeiz, aber ihre Tempoverschärfung führt nur dazu, dass sie schließlich schwer keuchend abbrechen muss. Hier zeigt Reitman symbolisch – wenn auch etwas überdeutlich - Marlos Problem: Statt sich ihrer aktuellen (Lebens-)Situation realistisch zu stellen, hängt sie noch immer alten Zeiten nach.

    Dabei hilft ihr Tully, die Mackenzie Davis („Blade Runner 2049“) sympathisch, flippig und trotzdem weise wie eine unkonventionelle Hipster-Mary-Poppins anlegt, die alle Bereiche von Marlos Leben auf Vordermann bringt - vom Plätzchenbacken in der Küche bis zur Eheaction im Schlafzimmer. Theron und Davis bilden ein dynamisches Duo, das sich perfekt ergänzt, Tullys Elan ist einfach ansteckend, auch für den Zuschauer. Die Männer spielen neben der Frauen-Power von Theron und Davis nur die zweite Geige, selbst wenn der oft mit Kopfhörern im Bett Ballerspiele daddelnde Drew in einer wunderbaren Szenen berührend Bilanz für seine Familie zieht: „I love us!“

    Bei allem Realismus ist „Tully“ nie dröge, sondern berührend und vor allem auch ziemlich witzig, weil der Regisseur und seine Autorin aus den Problemen ihrer Protagonistin immer wieder auch eine Menge schwarzen Humor herauskitzeln. Nur im letzten Drittel meint Reitman, mit ständig heraufbeschworenen Meerjungfrauen-Vorahnungen und einem angedeuteten „The Sixth Sense“-Moment doch noch von außen Spannung in das Szenario hineinbringen zu müssen – aber das wirkt dramaturgisch erzwungen und wäre auch gar nicht nötig gewesen.

    Fazit: Jason Reitmans „Tully“ ist eine zwar unspektakuläre, aber empathische erzählte und präzise beobachtete Familien-Tragikomödie, in der sicherlich viele Zuschauer*innen schnell auch persönliche Anknüpfungspunkte finden werden.

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