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    Mosul
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Mosul

    Arabische Avengers

    Von Björn Becher

    Mit vier MCU-Blockbuster, allen voran „Avengers: Endgame“, dem inzwischen erfolgreichsten Kinofilm aller Zeiten, haben sich Joe und Anthony Russo eine Macht und Freiheit in Hollywood erarbeitet, die sie nun auch mit ihrer eigenen Produktionsfirma AGBO Films nutzen wollen. Mehr als ein halbes Dutzend Filmprojekte haben die Brüder bereits angekündigt, wobei sie gerade nicht ihren Blockbuster-Mainstream-Erfolgen nacheifern wollen. Das zeigt sich auch schon an „Mosul“, dem nach der kurzfristigen Verschiebung des Action-Krimis „21 Bridges“ nun ersten veröffentlichten Werk von AGBO. Das bei den Filmfestspielen von Venedig uraufgeführte Kriegsdrama wurde ohne jegliche Stars und komplett in arabischer Sprache gedreht. So sind die Chancen an der Kinokasse zwar nahezu null, aber es zahlt eben auch auf die Authentizität des Regiedebüts von Drehbuchautor Matthew Michael Carnahan („World War Z“) ein, der mit „Mosul“ einen zwar etwas formelhaften, aber dennoch ungemein packenden Kriegs-Actioner abliefert.

    Im Zentrum des Films steht das Nineveh SWAT Team, kurz SWAT genannt. Wie die kurdische und die irakische Armee kämpft auch SWAT bei der sogenannten Schlacht um Mossul im Juli 2017 noch immer für die Befreiung der zweitgrößten irakischen Stadt aus den Klauen des ISIS, der sie zur Hauptstadt seines Islamischen Staates machen will. Obwohl SWAT keine herkömmliche Armee mit tausenden Kämpfern, sondern ein kleines, selbstorganisiertes, hauptsächlich aus lokalen Ex-Polizisten zusammengesetztes Team ist, wird die Einheit von ISIS gefürchtet wie keine zweite. Zu Beginn von „Mosul“ hilft SWAT dem jungen Polizisten Kawa (Adam Bessa) aus der Patsche, als er gerade in einem harschen Feuergefecht mit ISIS-Kämpfern zu unterliegen droht. Kawa darf sich danach dem von Major Jaseem (Suhail Dabbach) geführten Team anschließen und zieht mit den SWAT-Soldaten durch die umkämpfte Stadt, bei der hinter jeder Straßenecke der potenzielle Tod lauert.

    Major Jaseem führt die Truppe an.

    Als die Russo-Brüder den 2017 im New Yorker erschienen Hintergrundartikel „The Desperate Battle To Destroy ISIS“ über die mit Guerilla-Taktiken kämpfende, sich eigenmächtig organisierende und Befehle der Streitkräfte missachtende SWAT-Einheit lasen, war ihnen sofort klar, dass sie diese Geschichte unbedingt verfilmen und zu einem der ersten Projekte ihrer neuen Filmproduktionsfirma machen wollten. Eigentlich hatten sie sogar geplant, selbst Regie zu führen, doch ihnen war wichtig, „Mosul“ möglichst zeitnah herauszubringen – auch weil in und vor allem um Mossul immer noch Kämpfe toben, obwohl die Stadt eigentlich als „befreit“ gilt. Aufgrund ihrer auch kräftezehrenden Verpflichtungen mit dem „Avengers“-Doppel „Infinity War“ und „Endgame“ hätten die Russos aber frühestens Ende 2019 / Anfang 2020 selbst in das Projekt als Regisseure einsteigen können. Deshalb haben sie dem Wunsch von Drehbuchautor Matthew Michael Carnahan nachgegeben, bei „Mosul“ erstmals auch selbst Regie zu führen.

    Carnahan hat mit „Operation: Kingdom“ schon einen ähnlich gelagerten Kriegsfilm geschrieben – und von dem hat er sich dann auch gleich noch den Kameramann geschnappt: Mauro Fiore (Oscar für „Avatar“). Der unter anderem auch für „Training Day“ und „The Equalizer“ bekannte Bildgestalter ist auch diesmal wieder ganz nah dran an den Figuren und immer mitten im Kriegsgeschehen, dessen zerstörerische Wucht durch das phänomenale Sounddesign noch einmal eindrucksvoll unterstrichen wird. Wer „Mosul“ im Kino oder mit dem richtigen Heimkinosoundsystem schaut, darf sich schon einmal darauf einstellen, dass sein Sitz bebt, vor allem wenn die schweren Geschütze auf den Panzerwagen zum Einsatz kommen.

    Kaum Verschnaufpausen

    Im Gegensatz zu „Operation Kingdom“, in dem sich die intensive Action weitestgehend auf den Showdown beschränkt, gibt es in „Mosul“ von Beginn an kaum eine Atempause. Der Zuschauer wird direkt in ein Feuergefecht hineingeworfen, bei dem sich die Polizisten um Kawa einer ISIS-Übermacht erwehren müssen. Und so geht es die nächsten eineinhalb Stunden weiter: In der Stadt Mossul muss SWAT immer auf der Hut sein – und mit ihnen auch der Zuschauer. Wenn sich die Kämpfer in einem noch nicht ganz ausgebombten Wohnhaus bei einer kuwaitischen Seifenoper und einer Shisha-Pfeife erholen, dann kann auch der Zuschauer kurz mit durchschnaufen. Aber alle wissen: Es sind maximal wenige Minuten, vielleicht nur 90 Sekunden. Dann müssen sie weiter – oder werden gar selbst angegriffen.

    Wenn im Abspann zum Gedenken die Namen der gefallenen SWAT-Kämpfer aufgelistet werden, dann liegen zwischen den Todesdaten meist einige Wochen. Aber zugunsten der Rasanz und der Intensität wird im Kino die Schlagzahl, mit der die Kämpfer in Hinterhalte laufen oder auf feindliche Basen treffen, natürlich deutlich erhöht. Das geht sicherlich auf Kosten des ansonsten erstaunlich hohen Maßes an Authentizität, aber so zieht Carnahan die Spannungsschraube eben auch ganz gewaltig an. Wirklich kein SWAT-Mitglied ist sicher, jeder kann zu jeder Zeit sterben. Wobei dieser Effekt allerdings dadurch auch ein Stück weit wieder abgemildert wird, dass die meisten SWAT-Soldaten eher blass bleiben und kaum Persönlichkeit bekommen.

    Die meisten Figuren bekommen kaum Persönlichkeit.

    Durch die Augen von Newcomer Kawa lernen auch mit der Thematik bisher nicht vertraute Zuschauer die ungewöhnliche Sondereinheit kennen. SWAT richtet Gefangene kaltblütig hin, rettet Kinder von der Straße und besticht die regulären Polizeieinheiten vom IS erbeuteten Geld. SWAT operiert außerhalb des Systems, um eine höhere Durchschlagskraft zu erreichen. Aber auch wenn es naheliegen würde, ist das nicht der Grund für ihren Spitznamen „Avengers Of Mosul“. Der hängt vielmehr damit zusammen, dass SWAT nur neue Mitglieder aufnimmt, die aus persönlichen Motiven Rache an ISIS üben wollen. So wird Kawa aufgenommen, aber sein Kollege nicht, weil sein Onkel von ISIS getötet wurde und er damit eines der zwei möglichen Aufnahmekriterien erfüllt: Entweder wurde ein Familienmitglied von ISIS getötet oder du selbst wurdest von den feindlichen Kämpfern schwer verwundet.

    Das Wirken von SWAT ist – so ganz ohne staatliche Legitimation – sicherlich hochgradig ambivalent. Aber Carnahan überlässt es dem Zuschauer, sich seine eigenen Gedanken zu machen (was durchaus nicht unproblematisch ist, weil er sich ja zugleich doch komplett auf die Perspektive der selbsterklärten Anti-ISIS-Kämpfer beschränkt). Dabei taugt zumindest der trockene Major Jaseem durchaus zur Identifikationsfigur – auch dank der unglaublich einnehmenden Darstellung von Suhail Dabbach. Der Schauspieler verließ einst wegen Saddam Husseins Einfluss auf die Film- und TV-Industrie seine irakische Heimat, arbeitet in den USA nun als Koch und ist nur noch selten in Mini-Rollen zu sehen, wenn es in Filmen wie „Hurt Locker“ oder „Whiskey Tango Foxtrot“ ein arabisches Gesicht braucht. Das könnte sich nun ändern, denn seine verschroben-charismatische Darstellung ist geeignet, ihm größere Aufmerksamkeit zu sichern. Seine Figur ist aber nicht nur die bestgespielte, sondern auch die einzige, der Carnahan hier und dort kleine persönliche Charaktermomente erlaubt. So sammelt Jaseem immer wieder Müll ein, wenn er in Räume kommt, ganz egal, wie kaputt sie sonst auch sind. Ein betont nutzloses Unterfangen in einer quasi komplett zerbombten Stadt, aber eine nette Metapher für den ihn antreibenden Wunsch, in seiner Heimatstadt aufzuräumen und sie hinterher wieder aufzubauen.

    Herausragende Sets

    Der komplett unbekannte Cast und der Dreh im lokalen arabischen Dialekt sind aber nicht die einzigen Gründe dafür, dass „Mosul“ so authentisch wirkt. Herausragend ist auch das in Marokko (und natürlich teilweise auch am Computer) erbaute Mossul des Films. Das zeigen die Filmemacher dann mit Recht auch gerne vor: Obwohl die Kamera in den Häuserkämpfen ja meist ganz nah an den Figuren ist, gibt es immer wieder auch Totalen oder Drohnenaufnahmen der zerbombten Metropole. So authentisch das intensive Kriegs-Action-Drama ist, so stereotyp bleibt der eigentliche Plot. Dass Kawa und mit ihm auch der Zuschauer das eigentliche Ziel der Mission erst ganz am Ende erfährt, ist zwar ein netter Schachzug, aber lenkt auch nur bedingt davon ab, dass man die Geschichte des jungen Newcomers, der sich beweisen muss und am Ende lernt, selbst die Verantwortung zu übernehmen, genau so schon zigfach gesehen hat.

    Fazit: Die erste Produktion der neuen Firma der „Avengers 3 + 4“-Regisseure ist ein intensiver Action-Kriegsfilm, in dem zur Abwechslung mal nicht die üblichen US-Spezialkräfte, sondern eine rein irakische Eingreiftruppe im Zentrum steht.

    Wir haben „Mosul“ bei den Filmfestspielen in Venedig gesehen, wo er außer Konkurrenz im offiziellen Programm gezeigt wurde.

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