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    Geboren am 4. Juli
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Geboren am 4. Juli
    Von Tobias Mayer

    Der Vietnamkrieg gilt als der erste bewaffnete Konflikt, der in Teilen live im Fernsehen übertragen wurde. Was das US-Publikum zu sehen bekam, waren zunächst jedoch selektive und propagandistisch gefärbte Einblicke. Sie hatten den Zweck, das Chaos in Vietnam nicht ins öffentliche Bewusstsein vordringen zu lassen, sondern den Eindruck eines von den US-Streitkräften schnell und erfolgreich geführten Militärunternehmens zu vermitteln, frei nach dem Motto: „Unsere Jungs reißen sich fern der Heimat den Arsch dafür auf, damit die Kommunisten nicht bald auch bei uns vor der Tür stehen!" Hatte der Großteil der Journalisten bis 1968 – teils aufgrund politischen Drucks, teils aufgrund patriotischer Überzeugung – diese offizielle Interpretation mitgetragen, brachten die unter dem Namen „Tet-Offensive" bekanntgewordenen Angriffe des Vietcong, die zunehmend in der Heimat ankommenden Zinksärge sowie das von GIs im Dorf My Lai an Zivilisten begangene Massaker viele Redaktionen zum Umdenken und führten letztendlich dazu, dass die US-amerikanische Öffentlichkeit eine realistischere Vorstellung der brutalen Geschehnisse in Indochina bekam. Wie die US-„Heimatfront" auf den Schock reagierte, das erzählt Oliver Stone („Wall Street", „JFK") in „Geboren am 4. Juli", dem zweiten Teil seiner von „Platoon" begründeten und von „Zwischen Himmel und Hölle (Heaven and Earth)" beendeten Auseinandersetzung mit jenem Krieg, den er selbst als Soldat ertragen musste. Die auf realen Erlebnissen des Vietnamveteranen und jetzigen Friedensaktivisten Ron Kovic basierende Geschichte begeistert als erstklassig inszeniertes Leinwanddrama, das damaliger und heutiger Kriegsglorifizierung durch schonungsloses Offenlegen verstümmelter Soldatenseelen entgegentritt und ein Amerika zeigt, das sich in der Konfrontation mit dem von ihm verursachten Unheil zerreißt.

    Ron Kovic (Tom Cruise) trifft am Ende seiner Highschool-Zeit eine Entscheidung, die sein weiteres Leben nachhaltig prägen wird. Er tritt den Marines bei, befeuert von einer Werbeveranstaltung und ganz im naiven Glauben, seinem Land so am besten zu dienen. Die Army schickt ihn daraufhin in den Vietnamkrieg, wo er an einem aus Fahrlässigkeit resultierenden Massaker beteiligt ist, im unübersichtlichen Gefecht versehentlich einen Kameraden erschießt und sich schließlich – von der Brust bis zu den Füßen gelähmt – im Hospital wiederfindet. Psychisch schwer mitgenommen und für immer an den Rollstuhl gefesselt kehrt er zu Freunden und Verwandten in die Heimat zurück. Dort verteidigt er den Militäreinsatz und das eigene Engagement zuerst, entwickelt aber bald eine gegenteilige Sicht der Dinge...

    Der Krieg in Vietnam, die längste bewaffnete Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts, begann bereits 20 Jahre vor dem Eingreifen der USA und war erst Befreiungskrieg, dann Bürgerkrieg und schlussendlich Schlachtfeld des Kalten Krieges. Eine ungemein komplexe Verkettung historischer Ereignisse also, die noch an Unübersichtlichkeit gewann, weil sie nicht ausschließlich Vietnam, sondern auch Laos und Kambodscha erfasste. Amerikanische Politik und US-Militär reduzierten die Komplexität hingegen auf einen simplen, wegen der angeblichen eigenen technischen und zivilisatorischen Überlegenheit rasch zu gewinnenden Krieg. Diese höchst zynische „Marketing-Strategie" bildet den Anknüpfungspunkt für Stones Anti-Kriegs-Plädoyer. Identifiziert wird eine Kultur der Kriegsbegeisterung, die einmal quer durch die amerikanische Bevölkerung reicht, vom Arbeiter bis hinauf zum Präsidenten.

    Viel Zeit verliert das Drama beim Zeichnen seines Amerikabildes nicht: Gleich zu Beginn des Films spielen ein paar Knirpse Krieg und symbolisieren so die verlorene Unschuld einer ganzen Nation, für die der Waffengang die Lösung aller Probleme bedeutet. Es folgt ein Schnitt zur Unabhängigkeitsparade, der auch der kleine Ron inmitten einer jubelnden Menge beiwohnt und dabei die Weltkriegsveteranen besonders ehrfürchtig anschaut. Kurz darauf sehen wir den älteren Ron, der sich in der Turnhalle von seinem Trainer anschreien lässt, als befinde er sich schon im Bootcamp. Die Konsequenz der herausgestellten Kriegskultur verdeutlicht Stone wenig später in zwei hervorragend inszenierten Sequenzen – das Massaker an vietnamesischen Frauen und Babies sowie der für den Protagonisten sehr peinvolle Hospitalaufenthalt sind beide so eindringlich, wie Filmszenen nur sein können. Hier mutiert ein eben noch kriegsbefürwortender junger Idealist zum Mörder bzw. Krüppel und offenbart zusammen mit seiner Verletzlichkeit die Verlogenheit der kompletten Kriegsrhetorik.

    Neben der Inszenierung tragen auch die Darsteller ihren Teil dazu bei, dass „Geboren am 4. Juli" seine Wirkung nicht verfehlt. Tom Cruise („Mission: Impossible", „Vanilla Sky") meistert sowohl die naiv-begeisterten, als auch die verzweifelten Momente seiner Figur. Bei den Nebenrollen punkten insbesondere Willem Dafoe („Spider-Man", „Antichrist") als dem Wahnsinn nahestehender Veteran und Caroline Kava als Rons strenggläubige Mutter. Angesichts der Klasse von Regie und Schauspielern fallen die wenigen Schwächen des Anti-Kriegsfilms kaum ins Gewicht. Die Wandlung der Hauptfigur vollzieht sich etwas zu plötzlich, während einige Rückblenden wahrscheinlich nur als Zugeständnis an den unaufmerksamen Zuschauer vorhanden sind und somit einen gewissen Holzhammer-Charakter aufweisen. Verhindern, dass Oliver Stone seine Finger höchst effektiv in die wohl größte aller amerikanischen Wunden legt, können diese minderen Patzer allerdings nicht.

    Abgesehen von kleineren Makeln ist „Geboren am 4. Juli" unzweifelhaft ein bedeutender und absolut sehenswerter Beitrag zur Aufarbeitung des neben den Weltkriegen prägendsten Kapitels der US-amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Getragen von einer tadellosen Inszenierung und Tom Cruise‘ überzeugendem Spiel entsteht das gestochen scharfe Bild eines Amerikas, das propagandistisch angefeuert in einen Krieg taumelt, dessen wahres Ausmaß es spät begreift, freilich ohne dass die Durchhalteparolen der Befürworter deswegen verhallen würden. So sehr der Film an sich in der amerikanischen Kultur verwurzelt ist, so sehr weist er wegen seiner universellen Thematik darüber hinaus und gibt damit wertvolle Denkanstöße über die Wechselwirkungen zwischen Krieg und Gesellschaft.

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