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    Flach, flacher, "Wir sind die Welle": Darum lohnt sich die neue Netflix-Serie nicht

    Die neue deutsche Netflix-Serie wurde als Neuinterpretation des Schullektüre-Klassikers „Die Welle“ angekündigt. „Wir sind die Welle“ hat nun kaum noch etwas mit dem Ausgangsmaterial zu tun, aber das ist nicht das Problem...

    Netflix

    Morton Rhues Roman „Die Welle“ gehört bis heute an vielen Oberschulen fest zum Lehrplan. Dass der brisante Stoff vielen also vertraut sein dürfte, prädestiniert ihn natürlich auch für Adaptionen – zumal die auf wahren Ereignissen basierende Erzählung über die Entstehung faschistischer Strukturen heute aktueller denn je ist. Die Macher der neuen deutschen Netflix-Serie „Wir sind die Welle“ haben sich nun von dieser Vorlage inspirieren lassen, wollten deren altbekannte Handlung aber nicht einfach nochmal aufwärmen, schließlich haben sie diese bereits 2008 erfolgreich mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle verfilmt.

    Stattdessen verpassen sie dem Ganzen einen 180-Grad-Dreh mit einem anderen Fokus, der auch Buch- und Filmkennern eine gänzlich neue Geschichte bietet – die letztlich aber auf vielen Ebenen scheitert.

    Komplett neuer Ansatz

    Ausgangspunkt von „Wir sind die Welle“ ist anders als in der realen und den fiktionalisierten Vorlagen kein Schulexperiment eines ambitionierten Lehrers, das dann eine beängstigende Form annimmt. Die titelgebende Bewegung entsteht diesmal aus dem eigenen Antrieb einer Gruppe von Jugendlichen – oder zumindest aus halbwegs eigenem Antrieb, bekommen die Außenseiter Rahim (Mohamed Issa), Zazie (Michelle Barthel) und Hagen (Daniel Friedl) sowie die gut betuchte, aber unzufriedene Lea (Luise Befort) doch einen Schubs von ihrem geheimnisvollen neuen Mitschüler Tristan (Ludwig Simon).

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    Mit seinem Charme und seiner Weltsicht ermuntert der Rebell seine neuen Freunde dazu, gegen das kapitalistische System und die herrschenden Missstände aufzubegehren, um so vielleicht sogar für mehr Gerechtigkeit und Gleichheit zu sorgen. Gemeinsam starten sie immer gewagtere Protestaktionen, die jedoch schon bald aus dem Ruder zu laufen drohen...

    Einmal alles: Am Puls der Zeit

    Anstelle einer Nationalsozialismus-Parabel bekommen wir in „Wir sind die Welle“ also eher linke Anarchie – und das ist eine durchaus smarte und zeitgemäße Herangehensweise. In einer Zeit, in der eine faschistoide Gruppierung sogar den Sprung in den Bundestag geschafft hat, scheint es heutzutage leider obsolet, ungläubigen Schülern die Anziehungskraft solcher Strömungen näherzubringen. Man geht vielmehr den nächsten Schritt und widmet sich der Reaktion auf diese (und auf unzählige andere gesellschaftliche Probleme) und damit der Stimmung, die heutzutage tatsächlich bei vielen Jugendlichen vorherrscht. Dass man dabei umso mehr am Puls der Zeit sein will, macht schon die allererste Szene deutlich.

    Wenn das Wellen-Quintett in einem Vorausblick die Zusammenkunft einer politischen Partei namens NFD infiltriert, muss man nicht erst auf das wenig abgewandelte Logo oder die Parteifarben schauen, um die AFD-Anspielung zu verstehen. So gespannt man zunächst darauf schaut, was die Macher mit diesem konkreten aktuellen Bezug anstellen, stehen diese ersten Minuten von „Wir sind die Welle“ aber eigentlich schon sinnbildlich für die Versäumnisse der Netflix-Serie – obgleich sich das zum Teil erst später richtig offenbart.

    Bloßes Fingerzeigen, nichts dahinter

    Der Ansatz von „Wir sind die Welle“ mag halbwegs clever sein, die Referenzen sind es nur bedingt und haben eher was von alberner Parodie als von kritischer Analogie (neben der NFD gibt es etwa auch noch den deutschen Waffenhersteller Hacke & Abt). Das könnte man zweifelsohne noch verschmerzen, wenn die Macher der Serie wenigstens wirklich etwas zu sagen hätten.

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    Die auserkorenen Ziele werden nicht unverdient an den Pranger gestellt, über ein bloßes Fingerzeigen kommt man hier jedoch selten hinaus. Statt sich wirklich intensiv mit einer Problematik auseinanderzusetzen und so vielleicht einen interessanten Diskurs anzuregen, werden die vielen angeschnittenen Themen (bis auf ganz wenige Ausnahmen) schlichtweg oberflächlich und platt auf der Systemkritik-Checkliste abgehakt – von Gentrifizierung und Klimawandel über Fleischkonsum und Kapitalismus bis hin zu Waffengewalt und Rechtsextremismus. Womöglich wäre weniger hier mehr gewesen.

    Gute Voraussetzungen

    Dabei wäre der Grundstein für ebenso unterhaltsame wie erhellende Serienkost durchaus gelegt. Die an und bisweilen auch jenseits der Grenze zur Illegalität angesiedelten Aktionen der Welle haben gerade mit weiterem Voranschreiten bewusst einen etwas bitteren Beigeschmack, fallen aber auch dank der flotten Inszenierung zumeist erst einmal launig aus (hierhin ist wohl die meiste kreative Energie geflossen). Großer Pluspunkt dabei ist auch die Dynamik der Hauptfiguren.

    Trotz schwankender schauspielerischer Qualität innerhalb der Clique wird der Zusammenhalt der fünf Jugendlichen im Zentrum der Handlung schnell greifbar – woran vor allem auch ihr Anführer und dessen Auftreten großen Anteil haben.

    Bei Tristan tragen die Autoren viel zu dick auf (der Neuling ist nicht nur obercool, intelligent und gutaussehend, sondern kann auch noch Klavier spielen und spricht fließend Arabisch). Es fällt auch dank Darsteller Ludwig Simon („Meine teuflisch gute Freundin“) aber nicht schwer zu akzeptieren, wie sich Tristans neue Mitschüler vom Enthusiasmus des charmanten, dabei jedoch durchaus auch manipulativen Draufgängers anstecken lassen.

    Überkonstruierter Plot

    Die erste Hälfte von „Wir sind die Welle“ gerät somit auch weit weniger ins Straucheln als die zweite, bei der man sich zwar noch ein Stück weit auf die Figurenvorarbeit zurückfallen lassen kann, die aber auch zunehmend von hanebüchenen Entwicklungen durchzogen ist. Alles ist irgendwann mehr schlecht als recht einem vorgefertigten Plot untergeordnet. Die Verknüpfung von im Vorfeld offenbar starr festgelegten Story-Stationen erfolgt recht ungelenk.

    Die wenig glaubwürdige, da überprofessionelle Vorbereitung einiger Aktionen (die wohl nicht ohne Grund kaum gezeigt wird) steht oftmals im krassen Kontrast zu ihrem stümperhaften Scheitern. Angerissene Story-Stränge wie die Gefahr der Eigendynamik (immerhin die Essenz der Vorlage(n)) oder ein finsteres Geheimnis von Tristan werden teils im Widerspruch zu vorangegangenen Geschehnissen plötzlich fallengelassen, nur um die Handlung wenig überzeugend in eine bestimmte Richtung hinzubiegen.

    Immerhin schnell vorbei

    Es muss dabei noch dramatischer werden? Dann lassen wir unsere Polizisten-Karikatur doch über eine mehrspurige Schnellstraße hinweg auf unsere Protagonisten ballern. Die Welle soll sich bei einem der größten Rüstungskonzerne Europas einschleusen? Da machen unsere Figuren doch einfach ein Schülerpraktikum (!) in der Waffenfabrik, um sich an den drei (!) unfähigen Wachleuten vorbeizuschleichen.

    Das Gute: Bevor die Wellen-Serie wegen all dieser Probleme so richtig versandet, ist das Ganze auch schon wieder vorbei. Wirkliche Längen kommen bei den gerade mal sechs Folgen der ersten Staffel immerhin nicht auf, einen bleibenden Eindruck hinterlässt das Gesehene aber nicht.

    Fazit

    Diese Welle bleibt flach. Die Macher von „Wir sind die Welle“ lenken ihr Projekt mit hehren Absichten und einigen einnehmenden Protagonisten zunächst in spannende Bahnen. Das substanzlose und überkonstruierte Abarbeiten von eigentlich so relevanten Themen lässt die Wirkung des vielversprechenden Stoffes aber schnell verpuffen.

    Alle sechs Folgen der ersten Staffel von „Wir sind die Welle“ können ab sofort bei Netflix abgerufen werden.

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