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    Ein ganz gewöhnlicher Jude
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Ein ganz gewöhnlicher Jude
    Von Carsten Baumgardt

    Ein verfilmter Monolog über die Antwort auf die Frage, wie sich ein Jude im heutigen Gegenwarts-Deutschland fühlt. Das hört sich auf den ersten Blick nicht unbedingt nervenzerfetzend spannend an, ist aber in den richtigen Händen ein gelungenes Kinoexperiment. Der Untergang-Regisseur Oliver Hirschbiegel adaptierte das Buch das Schweizers Charles Lewinsky mit einem starken Ben Becker in der Titelrolle und schafft es, ein interessiertes Publikum anderthalb Stunden zu fesseln.

    Emanuel Goldfarb (Ben Becker) bekommt von seiner jüdischen Gemeinde in Hamburg aufgetragen, der Bitte eines Geschichtslehrers nachzukommen. Ein gewisser Herr Gebhardt möchte seiner achten Klasse lebendigen Unterricht erteilen und deswegen ein „Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft“ einladen, um seinen Schülern die Möglichkeit zu geben, Fragen zu stellen. Schließlich ist Goldfarb ein gestandener Journalist, der dieser Art von Aufgabe gewachsen sein muss. Doch Goldfarb hat nicht die geringste Lust, mitzuspielen. Er regt sich fürchterlich über den höflichen, fast unterwürfigen Grundton des Briefes auf und will absagen. Aber nicht persönlich, das ist ihm zu direkt. Er entschließt sich, Lehrer Gebhardt einen Brief zu schreiben. Beim Verfassen dieses Briefes geschieht etwas Sonderbares. Goldfarb steigert sich in das Thema hinein und reflektiert. Er macht sich tatsächlich Gedanken über das moderne Leben als Jude in Deutschland. Über die Vergangenheit, die Zukunft, seine Familie. Der Journalist schreitet unruhig durch seine Wohnung und nimmt seine Gedanken per Diktiergerät auf...

    Schnörkellos und klar. Abgesehen von wenigen Minuten zu Anfang und Ende gehört die Kamera Ben Becker ganz allein. Dieses Szenario ist wie maßgeschneidert für den gebürtigen Bremer. Mit seiner markanten Stimme und seinem bestimmten, theaterhaften Auftreten kann dieser Emanuel Goldfarb besser nicht besetzt sein. Oliver Hirschbiegel (Das Experiment) verzichtet bei „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ auf die übliche Dramaturgie einer Kinoproduktion. Sicherlich gibt es eine kurze Exposition und auch einen konsequenten Schluss, aber dazwischen hangelt sich der Film nicht an einem konstruierten Spannungsbogen entlang, sondern an den Gedanken, An- und Einsichten der Hauptfigur. Die Herangehensweise ist gewagt. Sie steht und fällt logischerweise mit dem, was Emanuel Goldfarb zu sagen hat. Und das ist zum Glück eine ganze Menge. Er ist intelligent, aber kein Intellektueller.

    Was zunächst mit dem Ärger über die Sonderbehandlung der heutigen Juden in Deutschland beginnt, steigert sich alsbald in eine Abrechnung mit dem deutsch-jüdischen Verhältnis - bis hin zur aktuellen Politik der israelischen Regierung. Goldfarb ist dabei fast schon verbittert. Verbittert über soviel Rücksicht und Mitleid. Ein ganz gewöhnlicher Jude möchte er sein. Ein Jude und ein Deutscher - gleichberechtigt. Er kennt die alten Traditionen, hielt lange wenig von ihnen, ist ihnen aber trotzdem verbunden. In einer Lebenskrise wandte er sich gar ganz den alten Riten zu und auch schnell wieder ab. Obwohl Goldfarb ein großes Selbstbewusstsein besitzt, nagen immer wieder Zweifel an ihm. Seiner Rolle in der Gesellschaft und der eigenen Identität ist er zeitlebens auf der Spur.

    Ben Becker spielt seinen Protagonisten mit einer ungeheuren Wucht und Stärke. Er vermittelt aber auch die Unsicherheiten und die nicht zu leugnende latente Arroganz seiner Figur. Hirschbiegel macht nicht den Fehler, seinen Film als Rührstück anzulegen. Goldfarb ist nicht unsympathisch, aber eine klassische filmische Identifikationsfigur gibt er auch nicht ab. Und das ist gut so, weil dieser Fakt einzig den Inhalt in den Mittelpunkt stellt.

    Technisch nutzt Regisseur Hirschbiegel die Möglichkeiten des begrenzten Raumes voll aus und beweist das richtige Gespür für diesen starken Stoff. Becker bewegt sich in seiner stilvollen aber kühlen Hamburger Wohnung von Zimmer zu Zimmer, öffnet eine Flasche Wein, brüht sich einen Espresso auf, wühlt nach alten Fotos und macht sich schließlich auf Beweissuche in den Keller. Dabei wechselt die Perspektive, sodass Eintönigkeit vermieden wird, ohne in die Gefahr zu geraten, Regiemätzchen anzuwenden. In der Mitte des Films schleichen sich minimale Hänger ein, wenn sich die Titelfigur zu sehr auf die eigene Familiengeschichte konzentriert.

    Emanuel Goldfarb ist eloquent und gradlinig. Und so ist auch „Ein ganz gewöhnlicher Jude“. Ein intensiver, packender Kino-Monolog für ein Publikum, das sich für das Thema interessiert und sich auf diese Prämisse einlassen will. Für wen das reizvoll klingt, der sollte sich den Kinobesuch gönnen, wer aber eher abgeschreckt ist, macht besser einen Bogen um den Film.

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