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    Der unbekannte Soldat
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Der unbekannte Soldat
    Von René Schumacher

    Michael Verhoeven („Schlaraffenland“) gilt als einer der wichtigsten politischen Regisseure Deutschlands. In seiner Dokumentation „Der unbekannte Soldat“ hat sich der schon mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Filmemacher nun einem im Zuge der deutschen Vergangenheitsbewältigung am kontroversesten diskutierten Themas angenommen: Die Rolle der Wehrmacht im Vernichtungskrieg in Osteuropa von 1941 – 1944. Leider zeigt sich bei seiner Dokumentation die Schwierigkeit, die Dimension des Schreckens umfassend wiederzugeben, was bei der Fülle der grausigen Ereignisse dieser Zeit aber auch kaum verwundern kann.

    Verhoeven nimmt die 1995 eröffnete Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944“, die innerhalb von vier Jahren in 33 Städten der Bundesrepublik und Österreichs gezeigt wurde, und vor allem die heftigen Reaktionen darauf als Ausgangspunkt für seinen aufwühlenden Dokumentarfilm. Er zeigt anschaulich, dass diese Ausstellung für viele Deutsche ein Tabubruch war. Bis dahin hatte die deutsche Öffentlichkeit das Bild der „sauberen Wehrmacht" gepflegt, die nichts mit den Verbrechen der SS zu tun hatte. Und nun wurde sie plötzlich mit Fotos von Soldaten beim Mord an Zivilisten konfrontiert. Die NPD marschierte vor der "Wehrmachtsausstellung" auf und selbst konservative Politiker waren empört. Schließlich wurde die Ausstellung 1999 zurückgezogen, neu konzipiert und unter anderem Namen dann noch einmal von 2001 bis 2004 in elf weiteren Städten gezeigt. Im weiteren Verlauf seiner Dokumentation beleuchtet Verhoeven, warum dies geschah, und er verfolgt die Spuren der Wehrmachtsverbrechen bis in die Ukraine und nach Weißrussland. Anhand von zahlreichen Interviews mit Zeitzeugen und Historikern in Deutschland, den USA und an den Orten des Geschehens, wird der Versuch unternommen, den wohl schrecklichsten Teil der Geschichte der deutschen Wehrmacht angemessen zu illustrieren.

    Dass Michael Verhoeven keine Kontroverse scheut, hat er immer wieder bewiesen. So sorgte er schon 1970 bei der Berlinale mit seinem Wettbewerbsbeitrag, dem experimentellen Anti-Vietnam-Kriegsfilm „o.k.“, nicht nur für einen Skandal, sondern gar für den Abbruch des Festivals. Gleichzeitig ist sein Können unbestritten, was ihm 1990 für seinen Film „Das schreckliche Mädchen“ sogar eine Oscar-Nominierung in der Sparte „bester ausländischer Film“ einbrachte. Also der richtige Mann für ein so heikles Thema. Besonders zu loben, ist sein Versuch, eine größtmögliche Objektivität zu wahren. Er verzichtet auf eigene Kommentare aus dem Off und lässt nur die Bilder und die interviewten Personen sprechen. In Bezug auf die Ausstellung haben beide Seiten, sowohl die Befürworter als auch ihre Gegner die Möglichkeit, sich zu äußern. Er spart nicht aus, das die erste Ausstellung definitiv sachliche Fehler enthielt und die Art der Präsentation, wie eine Historikerkommission bemängelte, zu pauschalen Aussagen geführt habe. Trotzdem lassen sich die gezeigten Erinnerungsphotos nicht leugnen, auf denen deutsche Wehrmachtsangehörige lächelnd vor aufgehängten Menschen posieren.

    Und Verhoeven führt zusätzlich genug Material an, welches zeigt, dass Wehrmachtssoldaten sich an der Erschießung von Zivilisten beteiligt haben. Besonders beeindruckend ist eine Passage, in der auf drei Ortskommandanten des Infantrieregiments 691 eingegangen wird, die alle den Befehl zur Erschießung der jüdischen Bevölkerung in den ihnen unterstellten Ortschaften bekamen. Einer führte den Befehl widerspruchslos aus, einer erst nach längerem Protest und einer weigerte sich strikt, was auch keine Konsequenzen für ihn hatte! Damit kommt Verhoeven der Wahrheit wohl am nächsten, nicht jeder Soldat an der Ostfront war ein Verbrecher, aber es gab Wehrmachtsangehörige, die sich mehr oder weniger bereitwillig an solchen Verbrechen beteiligten oder sie zumindest tolerierten.

    Jedoch bleibt auch vieles bei dieser Dokumentation Stückwerk. Für sein Ansinnen, die von der Öffentlichkeit noch nicht wahrgenommene Seite des Soldaten an der Ostfront zu zeigen, den Titelgebenden „unbekannten Soldaten“, benutzt Verhoeven die beiden Ausstellungen nicht nur als Ausgangs- sondern auch als Dreh- und Angelpunkt. Immer wieder auf sie Bezug nehmend, versucht er die Rolle der Wehrmacht sowohl bei Verbrechen gegen die russische Zivilbevölkerung, Gefangene, Partisanen und auch bei dem in den eroberten Gebieten stattfindenden Holocaust zu beleuchten. Aber bei seinem Bemühen um Objektivität berichtet er so detailliert von den Ausstellungen und den Problemen, die sich aus ihnen ergaben, das man allein aus diesem Material eine einzelne Dokumentation hätte machen können. So bleibt ihm nicht mehr genug Zeit, das ganze Spektrum der Aktivitäten der Wehrmacht an der Ostfront hinreichend zu beleuchten. Eine dreiteilige Wehrmachts-Dokumentation, die separat die Ausstellungen, dann die Verstrickung der Wehrmacht bei Verbrechen gegen Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung an der Ostfront und speziell die Beteiligung am Holocaust in den Ostgebieten zum Thema gehabt hätte, wäre wahrscheinlich besser gewesen.

    Zum Beispiel berichtet ein Wehrmachtsangehöriger erschüttert darüber, dass er einen Marsch russischer Gefangener begleitete, bei dem es die Order gab, jeden Gefangenen, der nicht mehr weiter konnte, sofort zu erschießen. An dieser Stelle wartet man vergeblich auf so berechtigte Fragen wie die, ob er oder Leute seiner Einheit dies denn auch getan haben, ob es Folgen für ihn hatte, falls er den Befehl nicht ausführte usw. Die Komplexität dieses Themengebietes ist riesig und kann einfach in einer 1 ½ stündigen Dokumentation nicht bewältigt werden, auch wenn Verhoeven sich die größte Mühe gibt.

    Fazit: „Der unbekannte Soldat“ ist eine mutige, aber leider manchmal auch etwas oberflächliche Dokumentation. Sehenswert ist sie aber allemal, beleuchtet sie doch einen dunklen Fleck in der deutschen Vergangenheit, auf den einen Blick zu werfen sich viele Jahre nicht getraut wurde.

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