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    So viele Jahre liebe ich dich
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    So viele Jahre liebe ich dich
    Von Ulf Lepelmeier

    Die Entlassung nach einer langjährigen Haftstrafe ist oftmals eine zwiespältige Angelegenheit. Zum einen sehnen sich die Sträflinge nach Freiheit, zum anderen müssen sie aber auch davon ausgehen, von der Welt außerhalb der Gefängnismauern nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen zu werden. Die Entlassenen müssen wieder neu erlernen, Beziehungen aufzubauen, den Alltag zu meistern und auf sich selbst zu achten. Die Organisation eines Arbeitsplatzes und einer Unterkunft ist dabei zumeist nur mit Hilfe möglich. In Philippe Claudels einfühlsamen Drama „So viele Jahre liebe ich dich“ wird in eleganter Bildsprache der langwierige Prozess der Reintegration nach einem Gefängnisaufenthalt beschrieben und das besondere Verhältnis zweier Schwestern feinfühlig beleuchtet. Dabei ist es insbesondere das herausragende Schauspiel von Kristin Scott Thomas, das den Film zu einer ergreifenden Charakterstudie macht.

    Juliette (Kristin Scott Thomas) saß für 15 Jahre im Gefängnis, in denen sie keinerlei Kontakt zu ihrer Familie oder zu Freunden pflegte. Doch nach den Jahren des Schweigens und der Buße hinter Gittern steht nun der Tag der Rückkehr in die Freiheit bevor. Ihre jüngere Schwester Léa (Elsa Zylberstein) nimmt die schweigsam gewordene Juliette fürs Erste bei sich auf. Sie will Juliette in ihr eigenes Familienleben intrigieren, doch die unausgesprochene Tat steht zwischen den Frauen. Zudem begegnet Léas Mann Luc (Serge Hazanavicius) seiner Schwägerin mit Argwohn. Gemeinsam versuchen die beiden entfremdeten Schwestern, die Vergangenheit zu bewältigen und das verlorene Vertrauen langsam wieder aufzubauen…

    Der französische Schriftsteller und Dramatiker Philippe Claudel, der hier seinen eigenen Bestseller verfilmt, arbeitet in seinem Kinodebüt das komplexe Innenleben seiner Protagonistin ohne gefühlsbetonte Monologe und nur mit Hilfe von sensiblen Beobachtungen vortrefflich heraus. Die anfangs vorherrschenden statischen Einstellungen, die die Verschlossenheit der verbitterten Juliette widerspiegeln, weichen zunehmend weiter gefassten Aufnahmen, was Juliettes langsame Öffnung auch visuell versinnbildlicht.

    Es ist schon beeindruckend, wie es Kristin Scott Thomas (Gosford Park, Vier Hochzeiten und ein Todesfall, Der englische Patient) gelingt, allein mit vagen Andeutungen und stark reduzierter Mimik und Gestik ungeheuer viel von der Gefühlswelt ihrer Figur zu offenbaren. Den Selbsthass, die Antriebslosigkeit und die innere Verzweiflung kann man in den ersten Szenen förmlich von Juliettes leeren, ausdruckslosen Augen ablesen. Die größte Leistung besteht aber darin, den bedächtigen Wandel ihrer Figur und das langsame Aufkeimen von Lebensfreude überaus differenziert und nachvollziehbar darzustellen. Es ist schwer verständlich, warum diese intensive und in ihrer Ruhe fesselnde Performance bei den Nominierungen für den Oscar übergangen wurde.

    Neben Thomas besteht vor allem Elsa Zylberstein (Diese Nacht), die ihre Rolle ähnlich differenziert und überzeugend anlegt. Ihre Léa ist eine nach Harmonie strebende Frau, die das plötzliche Verschwinden ihrer geliebten, um einige Jahre älteren Schwester nicht akzeptieren konnte. Sie ist im Nachhinein äußerst bestürzt darüber, den Kontakt zu ihrer Schwester während der Haft gänzlich eingestellt zu haben, und wünscht sich von Herzen, wieder ein Vertrauensverhältnis zu Juliette aufzubauen. Während Luc Juliette immer wieder mit der Frage nach dem Motiv für ihre Tat konfrontiert, respektiert Léa das Schweigen ihrer Schwester.

    Die Leitmotive Schuld und Gefangensein durchziehen den sich ruhig und gemächlich entfaltenden Film, der durch die unausgesprochene Straftat, die wie ein Damoklesschwert über Juliette und ihren Mitmenschen schwebt, über eine gewisse Grundspannung verfügt. Doch trotz der ewigen Präsenz des Verbrechens schafft es das Drama auf wundersame Weise, insgesamt eine positive Erzählstimmung zu erzeugen. Die Auflösung des Motivs für Juliettes Strafhandlung ist dann zwar schlüssig, erscheint aber etwas zu harmlos und beinahe wie eine pflichtbewusste Entschuldigung. Ein ewiges Geheimnis hätte dem ruhigen Charakterstück, das auf große Gefühlsausbrüche verzichtet, deutlich besser zu Gesicht gestanden.

    Fazit: „So viele Jahre liebe ich dich“ ist ein intimes Drama, das sich durch die genaue Beobachtung seiner lebensnahen Figuren, seine subtile Intensität und im Besonderen durch die überragende schauspielerischen Leistungen von Kristin Scott Thomas auszeichnet.

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