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    Rachels Hochzeit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Rachels Hochzeit
    Von Andreas Staben

    Jonathan Demme geht seinen eigenen Weg. Im Laufe seiner bereits fast vier Jahrzehnte dauernden Karriere hat der Oscar-Preisträger eine Nische gefunden, in der er seine ganz persönlichen Obsessionen verfolgen kann. Der Regisseur nimmt sich Freiheiten und löst sich spielerisch von Genrevorgaben, seine Filmographie umfasst beinahe ebenso viele Dokumentationen wie Fiktionen. Die Grenzen sind dabei durchaus fließend, entscheidend sind nicht die Unterschiede, sondern das stete Bemühen um Wahrhaftigkeit und emotionale Resonanz. Demme schaut mit mitfühlendem Blick auf die Risse und Brüche in der amerikanischen Gesellschaft und setzt auf die heilenden Kräfte filmischen Erzählens. Mit dem Familien-Drama „Rachels Hochzeit“ hat der Filmemacher nun einen vorläufigen Höhepunkt in seinem Schaffen erreicht. Hier laufen die Entwicklungslinien seines Werks in ein vielstimmiges und ergreifendes Credo zusammen.

    Kym Buchman (Anne Hathaway) darf das Therapiezentrum, in dem sie ihre Drogensucht behandeln lässt, für zwei Tage verlassen, um an der Hochzeit ihrer Schwester Rachel (Rosemarie DeWitt) mit dem jungen schwarzen Musikproduzenten Stanley (Tunde Adebimpe) teilzunehmen. Als Kym das großzügige angelegte Familienanwesen im beschaulichen Connecticut erreicht, ist das Haus bereits voller Gäste und von Musik erfüllt. Schnell brechen unterdrückte Spannungen und Rivalitäten hervor. Beim Probeessen leistet Kym Abbitte, aber die Selbstbezogenheit der Schwester stößt Rachel sauer auf. Auch die Vermittlungsversuche des Vaters Paul (Bill Irwin) fruchten wenig, vielmehr wird das Zusammenkommen von einer vergangenen Familientragödie überschattet, die auch das Verhältnis Kyms zu ihrer Mutter Abby (Debra Winger) bestimmt. Zwischen Eskalation und Versöhnung nehmen die Feierlichkeiten einen unerwarteten Verlauf...

    Nach seinem größten Erfolg, dem für seine Verhältnisse fast konventionell zu nennenden Das Schweigen der Lämmer, hat Demme sich immer deutlicher einem demokratischen Gemeinschaftsideal verschrieben. Davon zeugt bereits sein Aids-Drama „Philadelphia“, das in der Darstellung homosexueller Lebensweise zwar allzu zurückhaltend bleibt, aber vor allem in der von der eigentlichen Erzählung losgelösten Schluss-Sequenz der Trauerfeier schon etwas von der Kraft späterer Werke spüren lässt. In der zu Unrecht kaum beachteten Toni-Morrison-Verfilmung „Menschenkind“ verband Demme dann moralische und politische Sensibilität mit mutigen Inszenierungsansätzen. Mit den folgenden Remakes zweier Klassiker setzte der Filmemacher diesen Weg fort: Die hippe Coolness von „Charade“ verwandelte er in die fröhliche Multi-Kulti-Fantasie und Nouvelle-Vague-Hommage „The Truth About Charlie“, ehe er aus John Frankenheimers Kalter-Kriegs-Fabel vom Botschafter der Angst einen aktualisierten Der Manchurian Kandidat machte, der trotz aller politischen Klarsicht vor allem Hoffnung vermittelt. „Rachels Hochzeit“ knüpft an diese Versöhnlichkeit auf der intimeren Ebene des Familienfilms an, ohne dass Konflikte ignoriert oder beschönigt würden.

    Der Regisseur und sein Kameramann Declan Quinn (In America, Breakfast On Pluto) wollten ein „prächtiges Home Movie“ drehen, tatsächlich sind sie dem mitfühlenden Einverständnis eines privaten Hochzeitsvideos näher als den künstlich auferlegten Zwängen des Dogma-Stils. Quinns agile Handkamera wird fast zur handelnden Person, bei aller Beweglichkeit und bei aller Wanderlust wird der Kern der Handlung stets mit im Blick behalten. Was hier erreicht wird, ist nicht wie beim oft als Referenz zitierten Das Fest die Visualisierung der inneren Erschütterungen einer Abrechnung ohne Ausweg, sondern ein sich in improvisatorischer Freiheit entfaltendes Drama, dessen Ausgang letztlich offen bleibt.

    Demmes Entwicklung als Spielfilmregisseur kann gerade im Hinblick auf „Rachels Hochzeit“ kaum angemessen gewürdigt werden, wenn seine Dokumentarfilme unberücksichtigt bleiben, denn sie sind mehr als Fingerübungen oder Gelegenheitsarbeiten. Im amerikanischen Kino ist dieses ständige Oszillieren zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem eine Rarität. Allenfalls Oliver Stones filmische Begegnungen mit Fidel Castro fügen sich ähnlich nahtlos in das Werk des Regisseurs von W., JFK oder Nixon, wie es „Jimmy Carter Man From Plains“ über eine Lesetour des demokratischen Ex-Präsidenten, „The Agronomist“, das Porträt des ermordeten haitianischen Radiojournalisten Jean Dominique, oder der Konzertfilm Neil Young: Heart Of Gold bei Demme tun. Auch im komplexen und kunterbunten Soundtrack von „Rachels Hochzeit“, der dessen verbindenden Themen eine zusätzliche Dimension verleiht, spielt im übrigen einer von Youngs Songs eine prominente Rolle, wenn der Bräutigam beim Heiratsritual für seine Geliebte „Unknown Legend“ singt.

    Demme und Drehbuchautorin Jenny Lumet verweigern angesichts der tiefgreifenden Konflikte in ihrer Erzählung jede Schuldzuweisung, vielmehr machen sie den Schlüsselsatz aus Renoirs „Die Spielregel“ ohne jede Aufdringlichkeit sinnfällig: „Jeder hat seine Gründe“, heißt es in dem klassischen französichen Film-Choral und auch in „Rachels Hochzeit“ wird das zutiefst Menschliche dieser Beobachtung lebendig. Hier gibt es keine Helden oder Bösewichte, sondern nur Individuen mit ihren je eigenen Stärken und Schwächen. Anne Hathaway (Get Smart, Brokeback Mountain, Geliebte Jane) meistert die Rolle einer jungen Frau zwischen tiefer Verzweiflung und trotziger Selbstsucht mit traumwandlerischer Selbstverständlichkeit. Jeder Augenaufschlag und jede Zigarette im Mundwinkel, alles scheint auf wundersame Weise, als wäre es anders gar nicht möglich. Die emotionale Resonanz einer denkwürdigen Figur, wird durch die Inszenierung noch verstärkt. Wenn Kym auf der Türschwelle eines bestimmten leeren Zimmers verharrt oder nach einem heftigen Streit allein in der Küche zurückbleibt, blickt ihr die Kamera sachte von hinten über die Schulter. Demme muss nichts hinzufügen.

    Neben Hathaway, die mit einer wohlverdienten Oscar-Nominierung belohnt wurde, zeichnen vor allem Rosemarie DeWitt („Mad Men“, Das Comeback), Bill Irwin (Das Mädchen aus dem Wasser, Igby) und Debra Winger („Ein Offizier und Gentleman“, „Zeit der Zärtlichkeit“) ähnlich vielschichtige Porträts ihrer Figuren. Vor allem die distanzierte, nur mühsam beherrschte Abby wäre bei anderen Darstellerinnen womöglich zum reinen Mutter-Monster geraten, Winger macht es dem Betrachter weitaus schwerer und Demme lässt keinen Zweifel daran, dass Abby dazugehört. Neben den professionellen Schauspielern gab der Regisseur vielen seiner persönlichen Freunde wie Robyn Hitchcock und Roger Corman Auftritte im Film, einmal mehr das Persönliche mit dem Universellen verbindend.

    Anders als beim Widmungsträger von „Rachels Hochzeit“, Robert Altman, der seine Gesellschaftspanoramen („Eine Hochzeit“, Short Cuts) zumeist satirisch zuspitzte, setzt Demme auf Harmonie. Dabei steht er dem Vorbild in der meisterlichen Orchestrierung einer sich auf vielen Ebenen gleichzeitig entfaltenden Erzählung nicht nach. Kongenial unterstützt wird Demme von seinem Cutter Tim Squyres, der mit seinem Rhythmusgefühl, das er schon an ähnlichen Stoffen wie Der Eissturm und Altmans Gosford Park geschult hat, sicherstellt, dass die Ideen auch lebendig werden. Von den Tischreden, die bewegend oder fröhlich die Bedeutung des Familienbunds zum Ausdruck bringen, über die Ausgestaltung der Hochzeitszeremonie bis zur Zusammensetzung der Feiergesellschaft: Ohne dass dies in irgendeiner Form im Film erwähnt werden müsste, vereint Demme unterschiedliche Ethnien und vielfältige kulturelle Gesten und Einflüsse. Ein Verwandter des Bräutigams, der gerade aus dem Irak zurückgekehrt ist und in Uniform an der Feier teilnimmt, wird mehrere Male ausdrücklich als Familienmitglied begrüßt. Dies ist nur eine von vielen symbolischen Beschwörungen eines integrativen Gemeinwesens. Hier zeigt sich ein amerikanischer Idealismus, der durch den an der Realität geschärften Blick Demmes die Prägnanz eines Versprechens erhält: Wir versuchen es weiter.

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