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    Das Fischkind
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Das Fischkind
    Von Sascha Westphal

    Schon mit ihrem Debüt XXY, das – wie sie selbst gerne sagt – eigentlich nur eine Art Unfall war, hat die argentinische Schriftstellerin und Filmemacherin Lucía Puenzo nicht nur in Cannes für Aufsehen gesorgt. Das faszinierende Drama um die 15-jährige intersexuelle Alex zählt zu den eigenwilligsten und feinfühligsten Erstlingswerken der vergangenen Jahre. Nun hat Lucía Puenzo sich für ihren zweiten Film, das schillernde, sich einem eindeutigen Zugriff immer wieder entziehende lesbische Liebesdrama „Das Fischkind“, ihrem gleichnamigen Romandebüt zugewandt. Auf den ersten Blick scheint dieser Weg der aktiven Multimedialität sich geradezu aufzudrängen. Doch letztlich erweist sich diese Entscheidung für die Adaption ihres eigenen Romans als überaus eigensinnig, zumal sie sich ganz bewusst Freiheiten nimmt, die dieses geheimnisvolle Netzwerk der Leidenschaften eher als expressive Variation denn als Verfilmung im klassischen Sinne kennzeichnen.

    Eines Morgens verlässt die Teenagerin Lala (Inés Efron, La Mujer Sin Cabeza) ihr Elternhaus in einem der reichsten Viertel von Buenos Aires und macht sich auf den Weg zu einem Bus, der sie über die Grenze nach Paraguay bringen soll. Auf ihrer einsamen Reise in das Heimatstädtchen von Ailin (Mariela Vitale), dem 20-jährigen Hausmädchen ihrer Eltern, das alle immer nur La Guayi nennen, hängt sie ihren Erinnerungen nach. Je weiter sie sich von Zuhause entfernt, desto brennender werden ihre Gefühle für Ailin. Eigentlich wollten sie diesen Trip zusammen machen. Dafür hat Lala ihren Eltern Geld, Schmuck und schließlich sogar ein Gemälde gestohlen. Doch nun ist ihr Vater (Pep Munné) tot, vergiftet mit einem Glas Milch. Noch am selben Morgen ist Lala aufgebrochen. In Paraguay erfährt sie dann, dass La Guayi als Diebin und Mörderin verhaftet wurde. Um ihre große Liebe zu retten, reist sie sofort zurück nach Buenos Aires.

    Serafin, der ziemlich hässliche und auch ziemlich zynische Hund, der im Roman die Rolle des Ich-Erzählers innehat, ist in der Verfilmung gar nicht so hässlich, im Gegenteil: Er ist irgendwie sogar recht niedlich. Außerdem hat sich Lucía Puenzo nicht nur dafür entschieden, ihm seine Erzählerstimme zu nehmen. Sie hat zugleich auch seinen Anteil am Geschehen auf das Wesentlichste zusammengestrichen. Der Film verliert dadurch etwas von der extrem bizarren, letztlich aber auch fast schon wohlfeilen Skurrilität, die seine Vorlage prägt. Aber ein Zugeständnis an die kommerziellen Zwänge des Kinos ist das ganz sicher nicht. Die Perspektive des Hundes ist ohne Frage ungewöhnlich, doch nicht mehr. Im Endeffekt bedient sich die Autorin dabei nur eines Tricks, der eine klassische Konstellation in einen überraschenden Kontext stellt.

    In ihrer Verfilmung löst Lucía Puenzo nun gleich jegliche klare Perspektive auf. Sie bleibt zwar immer zumindest in Lalas Nähe und rückt sie somit ins Zentrum des Geschehens. Nur ergibt sich daraus längst noch keine verlässliche Perspektive. Die Übergänge zwischen Innen- und Außenansichten sind in „Das Fischkind“ genauso fließend wie die zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Filmemacherin nimmt dem Betrachter konsequent jede Gewissheit. Ihre meist ruhigen Einstellungen, ihre von einer manchmal kaum auszuhaltenden inneren Spannung erfüllten Großaufnahmen, ihr beständiges Jonglieren mit Zeit- und Erzählebenen – die Erzählung gleitet immer wieder nahezu unmerklich aus der argentinischen Realität hinaus in eine magische Märchenhaftigkeit –, all das sind momentan typische Mittel und Techniken des modernen Arthouse- und Kunstkinos. Nur verwendet Lucía Puenzo sie in einer Geschichte voller Genremotive und -Brüche.

    Der Tod des Vaters, der vielleicht Mord, vielleicht aber auch Selbstmord war, ist dabei nur ein kleines, fast schon unbedeutendes Detail. Der blutige Shoot-out, in dessen Verlauf Lala die wieder und wieder missbrauchte Ailin aus den Fängen eines sadistischen Polizisten befreit, setzt schon ein deutlicheres Signal. Die unbändige Erzählerin Puenzo liebt Extreme wie auch Ambivalenzen. Alles Eindeutige ist ihrem wilden und zugleich ganz zarten Kino fremd. Ein bisschen stand der furchtlosen Argentinierin dabei sicher auch David Lynch Pate. Vor allem sein wüstes Road-Movie-Liebesmelodram Wild At Heart scheint gleich einem fernen Echo immer wieder durch Puenzos mal comichafte, mal poetische Love Story zu hallen. Nur nimmt sich die junge Filmemacherin stärker zurück. „Das Fischkind“ ist in seiner Inszenierung nicht nur weitaus konzentrierter als Lynchs Cannes-Gewinner, sondern auch um einiges tiefgründiger.

    Auf der einen Seite ist die Liebe zwischen Lala und Ailin ein Akt des Widerstands. Beide begehren sie auf gegen eine männlich dominierte Welt, die ihnen ihre Identität vorschreiben will und sie immer nur ausbeutet. La Guayi wurde schon als Zwölfjährige erstmals missbraucht. Seither ist Sex mit Männern etwas, das sie über sich ergehen lässt. Bevor sie sich mit Gewalt nehmen, was sie haben wollen, lässt die undurchsichtige Schöne sie einfach gewähren. Nähe und Geborgenheit kann sie nur mit Lala empfinden. Einmal liegen sie von brennenden Kerzen umgeben zusammen in einer Badewanne: Das ist ein wundervolles Idyll, der wahr gewordene romantische Traum zweier Mädchen, deren Alter jeweils nur eine Zahl, eine reine Äußerlichkeit, ist, die in ihren Herzen zugleich viel älter und auch viel jünger sind.

    Aber selbst dieser perfekte Moment erzählt höchstens einmal die halbe Wahrheit. Auch die Beziehung der Mädchen ist von Angst und Besitzansprüchen wie von Eifersucht und Täuschungen gezeichnet. Jede echte Liebe muss mit einem derart absolutistischen Anspruch einhergehen, wie ihn La Guayi einmal fordert und Lala ihn unentwegt stellt. Nur wird sie dadurch auch wieder zu einem Gefängnis. Diese tragische Ambivalenz durchdringt jede noch so kurze Einstellung dieses ebenso verstörenden wie betörenden filmischen Geniestreichs. Lucía Puenzo bedingt sich ausgiebig bei den Tricks und Konventionen des Märchens, aber es bleibt ein Fluchtpunkt, ein Gegenmodell zur Realität, dem nicht zu trauen ist. Das Unvereinbare wird vereint und kommt doch nie zusammen, so entsteht ein unreines, ein den Betrachter zutiefst verunsicherndes Kino, wie es derzeit einzigartig ist.

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