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    Lucy
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Lucy
    Von Carsten Baumgardt

    Innovationen sind nicht gerade en vogue in Hollywood. Was Unmengen Geld einspielt, wird wiederholt, bis es wirklich niemand mehr sehen mag. Die Zuschauer fordern es aber auch heraus – in die Top 12 der kommerziell erfolgreichsten Filme 2013 in den USA schafften es mit „Die Eiskönigin“ und „Gravity“ gerade einmal zwei Werke, die keine Fortsetzungen oder Teile eines Franchise waren. Ausgerechnet Frankreichs ehemaliges Wunderkind und heutiger Großproduzent Luc Besson, der sich nach Meisterwerken unter eigener Regie wie „Léon – Der Profi“ oder „Nikita“ weitgehend auf die Produktion von Action-Ware wie „The Transporter“, „96 Hours“ oder zuletzt „Brick Mansions“ verlegt hat, haut mit dem philosophischen Science-Fiction-Actioner „Lucy“ jetzt einen wahrhaft originellen Kracher heraus. Dabei ist weniger die einmal mehr von Besson persönlich zusammenfabulierte Nonsens-Story beeindruckend (man achte auf die Dinosaurier!) als die furiose Inszenierung: eine visuell berauschende Achterbahnfahrt, wie es sie in dieser Art lange nicht mehr zu sehen gab. „Lucy“ ist wahnsinnig, völlig gaga, überbordend in jeder Hinsicht, in keiner Sekunde auch nur einen Funken glaubhaft, aber nichtsdestotrotz ein Riesenspaß – der irrsinnigste Blockbuster des Sommers.

    Taipeh: Erst seit einer Woche kennt sie den windigen Tagedieb Richard (Pilou Asbaek), doch schon verlangt ihr neuer Freund der US-Studentin und Partyqueen Lucy (Scarlett Johansson) einiges ab. Die junge Frau muss widerwillig Kurier spielen und einen Koffer an den mysteriösen Mr. Jang (Choi Min-sik) übergeben, denn Richard ist viel zu verängstigt, um den brisanten Inhalt selbst auszuhändigen. Zu Recht, wie sich herausstellt, denn wenig später beginnt ein Inferno, dessen erstes Opfer selbstverständlich Richard ist, der von Mr. Jangs Schergen eiskalt hingerichtet wird. Die Gangster bringen Lucy in ihre Gewalt und zwingen sie dazu, als ganz spezieller Drogenkurier zu arbeiten: Sie soll die neuartige Superdroge CPH4 aus Taiwan nach Europa herausschmuggeln. Dazu wird die heiße Ware operativ in ihrem Bauch versiegelt. Doch nachdem Lucy von sadistischen Wächtern zusammengetreten wird, platzt der Beutel und die Wunderdroge verteilt sich in Überdosis in ihrem Körper. Das hat extreme Folgen: Sie entwickelt nach und nach körperliche wie mentale Superkräfte, die keine Grenzen zu haben scheinen. Um herauszufinden, was mit ihr geschieht, kontaktiert Lucy den weltberühmten Hirnforscher Professor Samuel Norman (Morgan Freeman), der sich gerade für einen Vortrag in Paris aufhält. Die Versuche von Mr. Jangs Handlangern, Lucy aufzuhalten, enden indes grotesk, weil die Wunderfrau humorlos alles niedermäht, was sich ihr in den Weg stellt.

    Der Mensch (abgesehen von Bradley Cooper in „Ohne Limit“) nutzt nur zehn Prozent seiner Hirnkapazität! Das ist die wissenschaftlich nicht haltbare, aber für erzählerische Zwecke ungemein praktische Prämisse von „Lucy“. Luc Besson („Das fünfte Element“) hat sich nämlich eine Antwort auf die Frage ausgedacht, was passiert, wenn die Ausbeute auf 100 Prozent gesteigert wird und hat dabei den Eingebungen seines eigenen Hirns freien Lauf gelassen. Die Idee zu einem Film über eine archaische Superheldin trug er schon seit Jahren mit sich herum, daraus machte er nun den wildesten Mainstream-Blockbuster mindestens seit „Crank“: eine ebenso wüste wie unwiderstehliche und eigenständige Mischung mit Anklängen an „Matrix“, „2001 - Odyssee im Weltraum“, „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, „Her“, „The Tree Of Life“ und „The Transporter“. Besson liefert brettharte Action mit einer radikal entfesselten Filmheroine, kombiniert sie mit philosophischen Spekulationen, bei denen durchaus der ein oder andere kluge Gedanken abfällt, und rundet das Ganze mit einem ekstatisch-überkandidelten und trotzdem actionreduzierten Finale ab. Im herkömmlichen Sinne glaubwürdig oder logisch ist der Film dabei nie, aber das ist hier auch nicht wichtig: denn „Lucy“ ist in erster Linie eine sinnliche Erfahrung, ein regelrechter Kino-Trip.

    „Lucy“ ist wie eine Walze, die Luc Besson mit Urgewalt über die Leinwand wuchtet. Die Prämisse der drogengetränkten Superfrau kostet der Regisseur, Autor und Produzent genüsslich bis zum Exzess aus. Wenn sie nach und nach die Fesseln des Normal-Irdischen abwirft, neue Dimensionen der Wahrnehmung, der Bewegung, des Empfindens und Denkens erreicht, dann zelebriert der Regisseur diese Veränderung auch in Bild und Ton und inszeniert das Ganze mit Bedacht over the top. Die dynamische Form und der im Grunde alberne Inhalt gehen dabei so überzeugend Hand in Hand, dass es schnell gar keine Rolle mehr spielt, was für ein Unfug uns da zuweilen aufgetischt wird. So wirkt „Lucy“ mit seiner hochglänzenden und ins Extrem gesteigerten Videoclip-Ästhetik wie aus einem Guss und dabei kitzelt Besson auch noch aus jeder Szene das Maximum an Spannung.

    Regisseur Besson zieht in ironischen Montagen immer wieder Parallelen zur Tierwelt oder zu den Anfängen der Menschheit, damit unterstreicht er nebenbei, dass das wahre (Natur-)Ereignis seine unwahrscheinliche Titelheldin ist. Mit der Besetzung der „Avengers“-gestählten Amazone Scarlett Johansson („Lost In Translation“) hat er genau den richtigen Riecher gehabt – obwohl zunächst Angelina Jolie für die Hauptrolle vorgesehen war. Die Alleskönnerin Johansson erweist sich auch hier als Idealbesetzung, ihre Wandlung vom Partygirl mit dem etwas trashigen „Pretty Woman“-Charme zum alle Dimensionen sprengenden Superwesen, gelingt ihr scheinbar mühelos. Dabei überzeugt die nur 1,60 Meter große New Yorkerin mit einer Starpräsenz, die der überlebensgroßen Figur angemessen ist, und verliert die Sympathien des Publikums auch nicht, wenn Lucy längst die Fähigkeit zum Mitleid eingebüßt hat und sich als rücksichtslose Killermaschine durch den Film berserkert. Neben dieser erneut starken Bessonschen Frauenfigur (man denke nur an  „Nikita“, „Johanna von Orleans“ oder „Léon - Der Profi“) ist der Rest der Besetzung Beiwerk. Einzig Morgan Freeman („Sieben“, „Die Verurteilten“) darf sich als Wissenschaftskoryphäe ein paar kleine Szenen stehlen und Amr Waked („Syriana“, „Lachsfischen im Jemen“) liefert als Pariser Bulle Pierre Del Rio ein sympathisches Gegengewicht zu Lucys zunehmend fragwürdigen Moralvorstellungen.

    Fazit: Luc Besson entfacht mit dem kühnen Science-Fiction-Reißer „Lucy“ ein exzentrisches Action-Inferno mit höllischem Unterhaltungswert – irgendwo zwischen durchgeknalltem Nonsens und philosophischer Einsicht.

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