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    Blancanieves - Ein Märchen von Schwarz und Weiß
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Blancanieves - Ein Märchen von Schwarz und Weiß
    Von Ulf Lepelmeier

    Gleich zwei Schwarzweißfilme nahmen 2012 am Wettbewerb des Filmfestivals von San Sebastian teil, beide wurden am Ende mit Preisen ausgezeichnet. Auch beim spanischen Filmpreis Goya traten Pablo Bergers „Blancanieves - Ein Märchen von Schwarz und Weiß“ und Fernando Truebas „Das Mädchen und der Künstler“ anschließend in zahlreichen Kategorien gegeneinander an. Während Truebas ruhig-meditatives Werk um Kunst und Vergänglichkeit trotz 13 Nominierungen keinen Preis gewinnen könnte, räumte Regisseur Pablo Berger mit seinem märchenhaften Stummfilm „Blancanieves“ ab: Gleich zehn Goyas (darunter Bester Film) gab es für das Werk, das auch als spanischer Beitrag ins Oscar-Rennen geschickt wurde. Bergers stark bebilderter Stummfilm, der auf dem Fantasy Filmfest 2013 läuft, ist eine leichtfüßige Gratwanderung zwischen Massengeschmack und künstlerischem Anspruch, in dem die klassische „Schneewittchen“-Geschichte in die Stierkampfarenen der 20er Jahre verlegt wird.

    Anfang des 20. Jahrhunderts ist Antonio Villalta (Daniel Giménez Cacho) der beliebteste Torero Spaniens und bringt die Menge in Sevillas Stierkampfarena ein ums andere Mal zum Toben. Doch dann wird der gefeierte Matador von einem Bullen erfasst und lebensbedrohlich verletzt. Ein Schock, der bei seiner hochschwangeren Frau Carmen de Triana (Inma Cuesta) die Wehen einleitet. Während die Flamencotänzerin noch am gleichen Tage bei der Geburt ihrer Tochter Carmen verstirbt, überlebt ihr Ehemann. Doch der nun an den Rollstuhl gefesselte Antonio kann seiner Tochter nicht in die Augen sehen und so verbringt die kleine Carmen ihre ersten Jahre bei ihrer liebevollen Großmutter Doña Concha (Ángela Molina). Als diese stirbt, kehrt das aufgeweckte Mädchen (Sofía Oria) auf das herrschaftliche Anwesen ihres gelähmten und von Depressionen heimgesuchten Vaters zurück, der seine ehemalige Krankenschwester Encarna (Maribel Verdú) geheiratet hat. Die kaltherzige Stiefmutter gibt Carmen sofort zu verstehen, dass sie unerwünscht ist und schikaniert sie nach Kräften. Als die Jahre ins Land streichen, plant die gerissene Encarna ihren Mann Antonio und seine schöne Tochter zu töten. Doch Carmen (nun: Macarena García) überlebt den Anschlag, bei dem sie allerdings ihr Gedächtnis verliert. Sie trifft auf eine Gruppe von herumfahrenden kleinwüchsigen Toreros und schließt sich ihnen an. Als diese Carmens ungeheures Talent für den Stierkampf erkennen, taufen sie die junge Frau auf den Namen Blancanieves (Schneewittchen) und machen sie zum Star ihrer Stierkampfshow.

    Spanisches Brauchtum trifft in Pablo Bergers („Die Torremolinos Homevideos“) zweiter Regiearbeit auf das bekannte Märchen der Gebrüder Grimm. Lange Jahre musste der Regisseur um das Projekt kämpfen. Sein Drehbuch wurde zwar allerorten gelobt, doch sein Konzept eines groß angelegten Stummfilmmärchens konnte lange Zeit keinen Geldgeber überzeugen. Kurz vor Drehbeginn hörte Berger dann auch noch von der gefeierten Premiere eines französischen Stummfilms, der später zum Oscar-Abräumer des Jahres 2012 avancieren sollte. Den unvermeidbaren Vergleich mit Michel Hazanavicius’ „The Artist“ empfindet Berger nach eigener Aussage als Fluch und Segen zugleich. Er möchte sich nicht vorwerfen lassen, auf einen Trend aufgesprungen zu sein, denn dafür hat er selbst viel zu lange für die Realisierung seines Herzensprojekts gekämpft. Und während „The Artist“ eine Hommage an die amerikanische Stummfilmära ist, sieht Regisseur Pablo Berger seinen Film eher in der Tradition des europäischen Stummfilms der 20er Jahre.

    Berger beschreibt seine Vorgehensweise als die eines Jazzmusiker, der von der grimmschen Märchenmelodie ausgehend zur Improvisation ansetzt und dabei Einflüsse von spanischer Folklore bis hin zu und expressionistischen Filmelementen zu etwas Neuem verarbeitet. Wehklagender Saeta- Gesang und beschwingte Sevillanas-Rhythmen – ein mit dem Flamenco verwandter Volkstanz – gehen dabei durch präzise Schnitte eine perfekte Harmonie mit den wunderschönen Bildern von Kameramann Kiko de la Rica („Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod“) ein.

    Mit ausladenden Gesten und expressionistischem Mienenspiel machen die herausragenden Schauspieler die Stierkampfarena zu ihrer ganz eigenen Bühne. Kinderdarstellerin Sofía Oria gibt das kleine Schneewittchen herzig und aufgeweckt, während Daniel Giménez Cacho („La mala educación – Schlechte Erziehung“) den nach einem schweren Unfall in Depressionen verfallenen Ex-Torero ein würdevolles Wesen verleiht. Maribel Verdú („Tetro“, „Pans Labyrinth“) ist in der Rolle der bösen Stiefmutter herrlich diabolisch. Mit ihrer ausdrucksstarken Darstellung der hasserfüllten und bitterbösen Antagonistin übertrumpft sie sogar Macarena García als gutherziges Schneewittchen, die sich nicht einfach ihrem Schicksal ergibt, sondern mutig gegen Machismo-Kultur und eingefahrene Rollenklischees kämpft.

    Mit der auf sechs Zwerge zusammengeschrumpften Matadorgruppe, der Umkehr klassischer Genderrollen und dem melancholischen Ende, gelingt es Berger, seinen eigenen „Schneewittchen“-Mythos rund um die Stierkampfarena und den Flamencotanz zu erschaffen. Der Einstieg in die skurrile, bitter-süße Märchenwelt fällt zwar etwas schwer, doch nach kurzer Zeit findet Berger den richtigen Rhythmus für seine filmisch rückwärtsgewandte und dennoch moderne „Schneewittchen“-Interpretation.

    Fazit: Pablo Bergers betörende schwarzweiße Märchenfantasie „Blancanieves - Ein Märchen von Schwarz und Weiß“ begeistert als poetische Hommage an die europäischen Stummfilme der 20er Jahre. Der Regisseur reichert dabei das bekannte grimmsche Märchen auf einfallsreiche Weise mit andalusischen Traditionen an.

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