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    Ginger & Rosa
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Ginger & Rosa
    Von Sascha Westphal

    Das dumpfe, durchdringende Brummen eines schweren Flugzeugs erfüllt den dunklen Kinosaal. Noch ist die Leinwand schwarz. Dann detoniert eine Atombombe. Ihr Pilz wächst mit einer ebenso majestätischen wie schrecklichen Schönheit hoch in den Himmel hinauf, während am Boden, in Hiroshima, nichts als Verwüstung und Zerstörung zurückbleibt. Am anderen Ende der Welt, in London, liegen genau zu dem Zeitpunkt zwei junge Frauen in einem Krankenhaus in den Wehen. Der gemeinsame Schmerz etabliert über alle sozialen Unterschiede hinweg ein Band zwischen ihnen und ihren Töchtern, die fast gleichzeitig zur Welt kommen. Die beiden Mädchen, die an diesem 6. August des Jahres 1945 das Licht der Bombe erblickten, sind in Sally Potters ebenso einfühlsamen wie poetischen Coming-of-Age-Drama „Ginger & Rosa" Kinder eines neuen Zeitalters. Der Schatten der Zerstörung legt sich gleichsam als emotionaler und psychologischer Fallout über den ganzen Film. Wie leben? Diese Frage bekommt angesichts der Möglichkeit eines weltweiten Atomkriegs noch einmal eine andere Bedeutung.

    Ginger (Elle Fanning) und Rosa (Alice Englert) sind praktisch seit ihrer Geburt die besten Freundinnen. Nichts konnte sie bisher auseinanderbringen, weder ihre unterschiedlichen Lebensverhältnisse noch die Tatsache, dass Rosa die Schule verlassen musste. Letztlich hat sie das eine wie das andere nur noch stärker miteinander verbunden. Bei Ginger fand Rosa den Halt, den ihr Anoushka (Jodhi May), ihre alleinerziehende Mutter, nie geben konnte. Und für Ginger war Rosa immer auch eine Verbündete, mit der sie gemeinsam gegen Natalie (Christina Hendricks), ihre leicht neurotische, immer alles kontrollieren wollende Mutter, rebellieren konnte. Doch nun, im Herbst 1962, zeichnen sich erste Risse in ihrer Freundschaft ab. Ginger, die davon träumt, Schriftstellerin zu werden, stürzt sich, inspiriert von ihrem Vater Roland (Alessandro Nivola), in politisches Engagement, während Rosa einfach nur die große Liebe sucht. Zudem kriselt es in Natalie und Rolands Ehe immer mehr. Affären hatte er eigentlich immer. Aber nun verlässt er Natalie und beginnt schon bald darauf ausgerechnet unter Gingers Augen eine Beziehung mit Rosa.

    Eine wundervolle Leichtigkeit prägt dieses Porträt des Erwachsenwerdens zunächst. Für Momente scheint die Atombombe zum Auftakt fast vergessen. Schließlich haben die beiden 17-jährigen Mädchen ganz andere, viel alltäglichere Fragen und Sorgen. Eine Zeit lang reiht Sally Potter („Yes", „Rage") impressionistische Momentaufnahmen aneinander, zeigt, wie Ginger und Rosa zusammen rauchen, wie sie gemeinsam in einer Badewanne sitzen, in Teenager-Magazinen lesen und darauf warten, dass ihre neuen Jeans endlich einlaufen. Erste Tändeleien mit Jungs gehören zu dieser Skizze einer Jugend im London der frühen 1960er Jahre genauso dazu wie der Kuss, den die beiden einander fast geben, oder Natalies Sorgen, dass Gingers Freundschaft zu Rosa ihrer Zukunft im Weg stehen könnte.

    Einige Blicke und ein paar kurze, beinahe hingeworfene Dialoge reichen Potter zudem, um die wundervolle Komplizenschaft zwischen Ginger und ihrem Vater zu etablieren. Die Bewunderung des Mädchens für den linken Freidenker, der während des Zweiten Weltkriegs als Wehrdienstverweigerer im Gefängnis gesessen hat, ist unübersehbar und mehr als berechtigt. Schließlich ist es Roland gewesen, der sie gelehrt hat, für sich selbst zu denken und zu kämpfen. So skizziert Sally Potter in wundervoll pointierten Szenen das Panorama einer Jugend, das zugleich das Klima zu Beginn der 60er Jahre einfängt. Der große Bruch steht noch bevor, aber der Aufbruch hat ohne Frage schon begonnen, zumindest für Ginger. Rosa, die ihrer Herkunft in einer tristen Sozialsiedlung entkommen will, träumt dagegen noch die Träume der vorherigen Dekade.

    Erst nach und nach schält Sally Potter den zentralen Konflikt, die verquere Dreiecksbeziehung zwischen Ginger, Rosa und Roland heraus. Die mit leichter Hand entworfenen lyrischen Jugendszenen verdichten sich zunächst fast unmerklich zu einem eigentlich alltäglichen Drama. Wenn Elle Fannings Ginger schließlich auf dem kleinen Segelboot ihres Vaters mit anhört, wie Roland zum ersten Mal mit ihrer besten Freundin schläft, kann es einem fast das Herz zerreißen. Dieser doppelte Verrat trifft Ginger dort, wo es sie am meisten schmerzt, und „Super 8"-Star Elle Fanning scheint in diesem Augenblick innerlich fast zu zerbrechen.

    Aber den Betrachter erfasst in dieser Szene noch ein ganz anderer Schmerz, einer, der über den Moment hinausgeht und auf das Wesen des Lebens selbst verweist. Natürlich überschreitet Roland mit seiner Affäre zu Gingers Freundin eine Grenze, und natürlich verliert sich Rosa in ihrer Verliebtheit selbst. Aber Sally Potter urteilt nicht einen Augenblick lang über sie. Beide haben ihre Gründe und Motive, und die wiegen letztlich beinahe genauso stark wie Gingers Enttäuschung und ihr Leid. Leben heißt eben auch, Fehler zu begehen, andere Menschen, aber auch sich selbst zu verletzten. Darin liegt die Tragik unserer Existenz, die durch äußere Umstände, die Atombombe und die Kuba-Krise, während der Gingers persönliche Krise ihren Höhepunkt erreicht, noch einmal verstärkt wird.

    Fazit: Mit der von Erinnerungen an ihrer Jugend erfüllten Geschichte zweier Freundinnen hat Sally Potter einen herausragenden Film geschaffen. Sie beschwört nicht nur das London des Jahres 1962 mit einer geradezu sinnlichen Intensität herauf. In berauschenden, von einer enormen lyrischen Kraft erfüllten Bildern dringt sie zudem noch auf den Grund der conditio humana vor. Nur selten halten sich Hoffnung und Schmerz, Verzweiflung und Glück, Trauer und Mut so perfekt im Kino die Waage.

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