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    Jenseits der Hügel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Jenseits der Hügel
    Von Robert Cherkowski

    Manche Filme tragen ihre Botschaft wie ein Banner vor sich her. Das Publikum wird an die Hand genommen und bekommt das zu sehen, was es sehen muss, um der Agenda der Macher bereitwillig beizupflichten. Der rumänische Regisseur Cristian Mungiu, der 2007 für „Vier Monate, drei Wochen und zwei Tage" die Goldene Palme aus Cannes mit nach Hause nehmen durfte, gehört keineswegs zu dieser Sorte Regisseur. Bei ihm werden keine didaktischen Brotkrümel ausgestreut, denen die Zuschauer zu folgen haben. Bei ihm ist der eigene moralische Kompass jedes einzelnen Betrachters gefragt. Das trifft auch auf seinen neuen Film „Beyond the Hills" zu. Wer hier am Ball bleibt und sich nicht von der labyrinthischen moralischen Landschaft von Mungius drittem Spielfilm abschrecken lässt, der wird mit einer außergewöhnlichen Kinoerfahrung belohnt: Das Liebes- und Gewissensdrama „Beyond the Hills" ist zentnerschwer mit Deutungsmöglichkeiten beladen und wird ein aktiv an der Vorstellung teilnehmendes Publikum noch lange mit Fragen beschäftigen, auf die es kaum befriedigende Antworten gibt - vielleicht auch gar nicht geben kann.

    Vor Jahren wuchsen Voichita (Cosmina Stratan) und Alina (Cristina Flutur) in einem rumänischen Waisenhaus auf, wo sie beste Freundinnen waren. Als sich ihre Wege trennten, brachen Herzen, doch sie haben einander nie vergessen. Während es Alina nach Deutschland zog, wo sie nicht näher bezeichneten „Jobs" nachging, verschrieb Voichita ihr Leben dem Glauben und zog in ein orthodoxes Kloster auf dem Lande, wo ein alter Priester (Valeriu Andriuta) mit ruhiger Stimme und mit Strenge dem Herrn dient. Als Alina in ihre Heimat zurückkehrt und Voichita in ihrem kirchlichen Domizil aufsucht, herrscht erst große Wiedersehensfreude. Die verfliegt allerdings schnell, da Alina mit dem diszipliniert-gottgefälligen Leben im Kloster wenig anfangen kann. Voichita jedoch fühlt sich dem Abt verpflichtet. Während sie ihre Freundin zum Glauben bekehren möchte, versucht Alina die frömmelnde Voichita aus ihrer religiösen Trance zu reißen und nach Deutschland zu holen. Bei diesen Anstrengungen reiben sich beide Frauen mehr und mehr auf – mit tragischen Konsequenzen...

    Cristian Mungiu lotst seine Protagonistinnen mit ruhiger Hand, inszenatorischer Schmucklosigkeit und einem gemächlichen Tempo von einer ethischen Sackgasse in die nächste und denkt gar nicht daran, mit Kategorien wie richtig und falsch zu hantieren. Weder der weltlichen und rationalen, wenn auch offensichtlich traumatisierten Alina, noch der nächstenliebenden, doch dabei auch sehr strikt gläubigen Nonne Voichita wird der Schwarze Peter zugeschoben. Selbst Valeriu Andriuta in der Rolle des orthodoxen Paters ist ähnlich ambivalent gezeichnet. Einerseits mag er äußerst antimodern und fundamentalistisch in seinen Ansichten sein, andererseits steht er seinen Mitmenschen mit weit mehr Liebe und Engagement gegenüber, als die zwar pragmatischen, dabei aber auch gleichgültigen weltlich-bürokratischen Institutionen wie die Polizei und das Krankenhaus. Während die Kirche Alina mit ihrem endlosen Sündenkatalog in die Selbstverleugnung, bald auch in die tägliche Beichte treibt und ihre Freiheit einengt, ist es der Polizei schlichtweg egal, ob sie zurück nach Deutschland geht und weiter ihrem „Job" nachgeht.

    Dem Gefängnis des Glaubens steht das Faustrecht der Freiheit gegenüber: Man kann nur verlieren. Mungiu lässt seine Heldinnen zwischen Glaube, Lust, Zweifeln, Schutz und Zerstörung umherirren, ohne klar zu machen, worauf seine moralischen Planspiele hinauslaufen. Will er orthodoxen Glauben und westlichen Liberalismus gegeneinander ausspielen, das Rumänien 2012 analysieren, eine pessimistische Passionsgeschichte im Stile Ingmar Bergmans erzählen, Pragmatismus proklamieren oder anprangern, oder doch eher den Verlust des Glaubens beweinen? Vielleicht ist es doch „nur" eine Geschichte über ein tragisches Schicksal, das sich trotz bester Absichten von allen Seiten nicht abwenden lässt. Antworten bleibt er schuldig. Es spricht für ihn und ganz besonders für sein exzellentes Hauptdarstellertrio, dass seine Geschichte trotz stattlicher Länge, sehr überschaubarem Schauplatz und arg trister Farben nie langweilig wird. „Beyond the Hills" ist ein faszinierendes großes Rätsel, das jeder für sich lösen muss.

    Fazit: Mit „Beyond the Hills" fordert Cristian Mungiu sein Publikum zu einer komplexen Auseinandersetzung mit Themen wie Religion, Moderne, Pragmatismus, Liebe, Hingabe und Selbstaufgabe heraus. Wer die Herausforderung annimmt, wird etwas lernen: über die Welt und sich selbst.

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