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    A Lullaby To The Sorrowful Mystery
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    A Lullaby To The Sorrowful Mystery
    Von Christoph Petersen

    Für den philippinischen Autorenfilmer Lav Diaz („Norte – The End Of History“) ist es nichts Ungewöhnliches, dass seine Filme nicht wie im Kino üblich zwei, drei oder auch mal vier Stunden dauern, sondern gleich einen ganzen Tag verschlingen. Sein Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“ ist mit einer Spielzeit von 485 Minuten, also etwas mehr als acht Stunden, sogar nur der viertlängste Film des Regisseurs, der die Ausführlichkeit seiner Werke damit erklärt, dass er als Kind jeden Tag zehn Kilometer zu Fuß zur Schule gehen musste – und die Langsamkeit sei nun eben Teil seiner Welterfahrung. In seinem historischen Drama „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“ beschäftigt sich Diaz mit der philippinischen Revolution gegen die spanischen Besatzer zwischen 1896 und 1898 – im 4:3-Format und mit kontrastreichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die überwiegend von hinten beleuchtet sind: So liegen die Gesichter der Schauspieler häufig im Schatten und dem Zuschauer bleibt noch mehr Raum, um sich – vergleichbar mit dem Wandeln durch eine Fotoausstellung – in den reichhaltigen, vielschichtigen Tableaus zu verlieren (Kameraschwenks gibt es kaum, „schnelle Schnitte“ gar nicht).

    „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“ hat mit pathosschwitzenden Hollywood-Historienepen wenig gemein. Es gibt keine großen Schlachtenszenen, nur einmal sehen wir die verstreuten Leichen nach einem Kampf, einmal die aufgeknüpften Opfer eines Massakers. Die Fragen nach Verantwortung, Schuld und Freiheit werden hier auf einer sehr viel persönlicheren Ebene verhandelt: Nach der Ermordung des Revolutionsführers Andrés Bonifacio y de Castro sucht seine Frau Gregoria De Jesus (Hazel Orencio) mit ihren Gefährten 30 Tage lang einen ganzen Berg nach seiner Leiche ab. Sie durchforstet jedes Stück Regenwald und tastet den Grund jedes schlammigen Baches ab, während ihr drei mysteriöse Schamanen das Leben schwermachen und eine christliche Höhlensekte eine entführte heilige Jungfrau anbetet. Unterdessen lässt sich ein angeschossener Revolutionär (Piolo Pascual) in einer Hängematte quer durch den Dschungel tragen…

    Lav Diaz vermischt Fakten mit Mythologie, die Ideen und Ideale der Revolution sind hier mindestens genauso wichtig und präsent wie das tatsächliche historische Geschehen. Dazu führt er uns immer wieder verschiedene Arten des Geschichtenerzählens vor und lädt zur Reflektion über das Verhältnis zwischen Kunst, Religion und Politik, Legende und Wahrheit ein. Sänger, Poeten und Prediger spielen zentrale Rollen – und sogar der nur ein Jahr vorher erstmals öffentlich vorgeführte Cinématographe der Brüder Lumière kommt vor: Die Gäste einer Party der spanischen Kolonialherren ergreifen im Angesicht der bewegten Bilder vor Angst die Flucht.

    Heutzutage ist das ja eher andersherum. Da flüchten die Leute eher, wenn sich die Bilder ihrer Meinung nach nicht schnell genug bewegen: Im Umfeld der Berlinale-Premiere von Diaz' Film gab es daher auch mehrere Artikel mit Überschriften wie „Kino extrem – Wie übersteht man einen Acht-Stunden-Film?“. Aber ich kann dazu nur sagen (selbst wenn am Ende wohl nur noch etwas mehr als die Hälfte der Zuschauer anwesend war und andere das „Schlaflied“ im Titel etwas zu wörtlich genommen haben): Obwohl „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“ der mit Abstand längste Film ist, den ich je am Stück im Kino gesehen habe, war ich von Anfang bis Ende gefangen – und die körperliche Anstrengung, zu der ein Kinobesuch bei acht Stunden zwangsläufig ausartet, habe ich auch erst nach dem Abspann wahrgenommen. Großes Kino braucht sich an keine Grenzen oder Regeln zu halten – und Lav Diaz liefert mit seinem mythischen Revolutions-Epos erneut ganz, ganz großes Kino: poetische, spirituelle, mystische Bilder voll rauer, verzweifelter, wahrhaftiger Schönheit.

    Fazit: „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“ ist ein beeindruckendes Kinoerlebnis – für jede seiner 485 Minuten!

    Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2016. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 66. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.

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