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    Das Zimmer der Wunder
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Das Zimmer der Wunder

    Haarscharf am Kitsch vorbeigeskatet

    Von Gaby Sikorski

    Mit seinem Roman „Das Zimmer der Wunder“ (» hier bei Amazon*) erlebte der französische Autor Julien Sandrel selbst ein großes Wunder: Sein Debüt wurde auf Anhieb zum Bestseller, noch vor der Veröffentlichung in Frankreich im Jahr 2018 wurde sein Roman auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert und in 25 Länder verkauft. Schon damals interessierten sich auch mehrere Filmproduktionen für den Stoff. Mittlerweile wurde das Buch weltweit mehr als 350.000 Mal verkauft. Dass auch die gleichnamige Verfilmung des Romans unter der Regie von Lisa Azuelos („Dalida“) in Frankreich bereits zum Publikumserfolg avancierte, ist unter diesen Voraussetzungen allerdings weniger ein Wunder als einfach nur eine logische Folge.

    Louis (Hugo Questel) lebt mit seiner Mutter Thelma (Alexandra Lamy) in einer kleinen Wohnung. Nachbar Etienne (Xavier Lacaille) passt gelegentlich auf ihn auf, auch um ihm bei den Schularbeiten zu helfen. Tatsächlich zocken die beiden aber lieber Videospiele, was Thelma zwar weiß, aber nicht gutheißt. Dasselbe gilt für Louis‘ größtes Hobby, das Skaten. Eines Tages passiert es: Louis verunglückt mit seinem Skateboard und fällt ins Koma. Das Krankenhaus wird für Thelma und ihre Mutter Odette (Muriel Robin) zum neuen Lebensmittelpunkt, zumindest bis sie eines Nachts unter Louis‘ Kopfkissen ein Skizzenheft findet. Darin steht zwischen fein gestrichelten Mangas akribisch aufgeschrieben, was ihr Sohn noch alles erledigen wollte, bevor die Welt untergeht. Insgesamt zehn Wünsche, kleine wie große, alberne wie rührende. Thelma nimmt sich vor, jeden einzelnen Punkt stellvertretend für ihren Sohn abzuarbeiten, als sei das eine Art mütterlicher Voodoo-Zauber, mit dem sie ihn wieder aufwecken könnte. Abgesehen davon fühlt sie sich ihrem Sohn auf diese Weise aber auch einfach sehr viel näher…

    SquareOne Entertainment
    Thelma (Alexandra Lamy) sieht das Skating-Hobby ihres Sohnes Louis (Hugo Questel) zwar skeptisch, aber er liebt es eben auch über alles.

    Die Grundidee dieser Mutter-Sohn-Geschichte hat durchaus einen ganz eigenen Charme in ihrer Kombination von Spannung und Emotionen. Ein Kind, das im Koma liegt – das schreit ja geradezu nach einem Melodram, und tatsächlich: „Das Zimmer der Wunder“ bedient das Genre in geradezu vorbildlicher Weise. Allerdings gibt es neben der manchmal sehr gefühligen Krankenhausgeschichte eben auch noch eine zweite Ebene, und die wird immer wichtiger: Mit Thelmas Aktionen kommt Tempo und Action in die Handlung, was eine sehr positive Strömung inklusive eines eher feinen Humors zur Folge hat. Dass sie eine erwachsene Frau ist und Louis ein kleiner Junge, schafft ein paar witzige bis absurde Situationen, zum Beispiel, wenn sie Graffitis sprayt oder auf einer gefährlichen Serpentinenstraße mit dem Skateboard fahren will.

    Auf diese Art lernt Thelma immer mehr dazu, sie entwickelt sich selbst weiter, wird mutiger und sie trifft viele Leute, die bereit sind, ihr zu helfen. Zusätzlich sorgt sie so für eine gewisse Ablenkung, was angesichts des Zustandes ihres Sohnes ebenfalls eine gute Idee ist. Tatsächlich sind die Szenen im Krankenhaus der rote Faden, der die Handlung zusammenhält, und Louis wird zum Bestandteil dieser Rahmenhandlung, während Thelmas Aktionen in den Mittelpunkt rücken. Sie reist durch die Weltgeschichte, nach Portugal, Japan, Schottland. Da wird es dann manchmal etwas unglaubwürdig, was Thelmas Job betrifft oder die finanziellen Operationen mit diversen Kreditkarten, denn irgendwie muss die nicht gerade auf Rosen gebettete Thelma diese ganzen Aktionen ja auch finanzieren.

    Nicht gerade filigran, aber wirkungsvoll

    Die im Film gewählte Konstruktion ist da nicht unbedingt elegant, sondern eher rumpelig, wenn die Bank immer wieder bei Thelma nachfragt und sie schließlich die Kreditkarte ihrer Mutter bekommt. Manches wird auch gar nicht erst erklärt, und so steht Thelma unvermittelt in Tokio auf der Straße, ohne dass die zeitlichen Zusammenhänge klar sind und ob sie eigentlich Urlaub bekommen oder inzwischen gekündigt hat. Ihre Erlebnisse selbst sind dafür oft richtig spannend. Ein Beispiel: Louis hat sich vorgenommen, mit Walen zu schwimmen. Deshalb reist Thelma nach Portugal, muss aber erst einmal ihre Angst vor dem Wasser besiegen, bevor sie ins Meer steigen kann. Das ist witzig und rührend zugleich: Eine Frau überwindet ihre Ängste, um ihrem Kind und letztlich auch sich selbst zu helfen.

    Einige schöne Ideen ergänzen den Plot und sorgen für eine optimistische Grundstimmung: Da wird ihre Mutter Odette, mit der Thelma zu Beginn ständig im Clinch liegt, aufgrund der Ereignisse zur besten Freundin, es entstehen freundschaftliche Beziehungen zu den Pflegekräften und zu Louis‘ heimlichen Freunden, den Skatern. Auch die Geschichte rund um Louis‘ Vater (Rafi Pitts) hat ihre Qualitäten, auch weil auf jede Form von Wiedersehens-Lovestory verzichtet wird. Wie am Schluss alle kleinen und großen Handlungsbögen zusammengeführt werden, ist dann tatsächlich sehr hübsch.

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    Das Abarbeiten der Wunschliste ihres Sohnes führt Thelma einmal rund um den Globus.

    Auf die zumindest recht sparsam eingesetzten Rückblenden hätte man hingegen gerne verzichten können, denn die zwischen die Reisen geschobenen Szenen im Krankenhaus sind völlig ausreichend. Aber wahrscheinlich musste zwischendurch das Mutter-Kind-Emotionen-Karussell nochmal angeschoben werden. So hat der gesamte Film immer mal wieder Szenen, in denen ein Taschentuch griffbereit gehalten werden sollte. Dank Alexandra Lamy mit ihrer zupackenden Energie und ihrem eher spröden Charme gleitet der Film dennoch nicht in die offene Trivialität ab, und die Mütterverklärung hält sich in erträglichen Grenzen. Thelma ist eine Frau, die bei aller Emotionalität nicht gefühlsduselig wird und eine klare Zielrichtung hat: Sie will mit ihren Aktionen ihre eigene Hilflosigkeit und Verzweiflung besiegen, und sie hat etwas, wovon sie Louis erzählen kann. Immer in der Hoffnung, dass er eines Tages darauf reagiert. Sie wartet auf ein Zeichen von ihm – vielleicht ein Lächeln?

    Fazit: Aus dem Wunderbuch von Julien Sandrel ist zwar kein Filmwunder geworden, aber ein solides Melodram mit Tempo, einer guten Portion Humor, einer positiven Grundstimmung und einer tollen Hauptdarstellerin. Alexandra Lamy stürzt sich als Mutter eines im Koma liegenden Sohnes in all jene Abenteuer, die ihr Sohn eigentlich für sich selbst vorgesehen hatte, immer nach dem Motto: „Was ich vor dem Ende der Welt erledigen will, weil das vielleicht früher kommt als erwartet.“ Die Message ist dabei ebenso banal wie tiefsinnig, auf jeden Fall aber optimistisch: Genieße den Moment und das Leben – es kann jederzeit vorbei sein.

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