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    In America
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    In America
    Von Carsten Baumgardt

    Nach seinem Meisterwerk „In The Name Of The Father“ (1993) wurde es lange Zeit ruhig um Regisseur Jim Sheridan. Mit „The Boxer“ (1997) konnte er nicht an den Erfolg des Vorgängers anknüpfen. Mit dem halbbiografischen Einwanderer-Drama „In America“ meldet sich der Ire künstlerisch auf hohem Niveau zurück. Die bitter-warmherzige Familiensaga besticht durch brillante Darstellerleistungen und eine anrührende Geschichte, die jenseits aller Klischees überzeugt.

    Johnny (Paddy Considine), Ehefrau Sarah (Samantha Morton) und ihre beiden Kinder Christy (Sarah Bolger) und Ariel (Emma Bolger) haben ihrer irischen Heimat den Rücken gekehrt und siedeln Mitte der 80er Jahre mit Sack und Pack nach New York über. Johnny ist arbeitslos, träumt von der großen Karriere als Schauspieler. Allerdings leidet er genauso wie Sarah unter dem Trauma, ihren kleinen zweijährigen Sohn Frankie, der an einem Gehirntumor starb, verloren zu haben. Johnny ist nicht in der Lage, Gefühle zu entwickeln, zu empfinden. Er lebt sein Leben wie betäubt von dem Schmerz, den der Tod des Sohnes verursacht hat. In New York wollen sie ein neues Leben beginnen. Die Familie haust in einem heruntergekommenen Dealerhaus in einer unfeinen Gegend. Johnnys Versuche, Rollen als Schauspieler zu bekommen, scheitern. Er macht ein paar Dollar als Taxifahrer, während Lehrerin Sarah als Kellnerin ihr Geld verdient. Trotzdem müssen sie unter schwierigsten Bedingungen in Armut über die Runden kommen. Als die zehnjährige Christy und ihre sechsjährige Schwester zu Halloween an der Nachbarstür bei dem zornigen, schwarzen Maler Mateo (Djimon Hounsou) klingeln, ist das der Beginn einer intensiven Freundschaft. Als Mateo eines Tages im Treppenhaus einen Zusammenbruch erleidet, wird klar, dass mit ihm etwas nicht stimmt...

    „In America“ ist Jim Sheridans mit Abstand persönlichster Film. Gemeinsam mit seinen Töchtern Kirsten und Naomi schrieb er das Drehbuch und verarbeitete auf diese Weise den Tod seines kleinen Bruders Frankie, den er unter ähnlichen Umständen wie im Film geschildert, verlor. Erzählt wird das warmherzige Drama aus der Perspektive der zehnjährigen Christy. Mit der tragisch-schönen Geschichte rührt Sheridan sein Publikum. Das geschieht ohne Klischees und kalkulierten Druck auf die Tränendrüse wie es in einem Hollywood-Film der Fall wäre. Vor allem auf seine Schauspieler kann sich der Regisseur voll verlassen. Paddy Considine („24 Hour Party People“) und Samantha Morton („Minority Report") spielen so überzeugend, dass sich die Authentizität der Figuren förmlich aufdrängt. Johnnys Charakter gibt auch einiges an Emotionen her. Tief berührend-bitter und Gänsehaut-verursachend ist die Szene, in der er sein ganzes noch vorhandenes Vermögen auf einem Rummelplatz auf’s Spiel setzt, um für seine Töchter bei einem Wurfspiel eine billige E.T.-Stoffpuppe zu gewinnen. Hier leidet der Zuschauer mit – bis an die Schmerzgrenze. Diese Episode hat Sheridan einst selbst erlebt – allerdings mit entgegengesetztem Ausgang.

    Von dieser Güte hat „In America“ noch mehr zu bieten. Als Johnny die endgültige Gewissheit erlangt, dass sein Nachbar schwer krank ist – und er ihn vorher gefragt hat, ob er in seine Frau verliebt sei - schreit ihn Mateo an: „I love everything – everything, that lives!“ Das ist ebenso ergreifend. Bei aller Klasse, die die erwachsenen Darsteller zeigen, wird ihr Spiel um ein Haar von den beiden Mädchen Sarah und Emma Bolger in den Schatten gestellt. Die Kinderdarsteller schaffen es, die Empfindungen ihrer Charaktere auf die Leinwand zu transportieren, ohne dabei zu übertreiben. Trotz des harten Schicksals haben sie den Spaß und die Freude an den Kleinigkeiten des Lebens nicht verloren.

    Stilistisch macht sich Sheridan auch die Passion Christys zunutze. Sie beobachtet den Alltag durch ihren Camcorder, mit dem sie alles festhält. Durch diesen Kniff wird das Publikum immer wieder in die Perspektive der tapferen und schon sehr erwachsen wirkenden Christy versetzt. Dass das Ganze nicht in Sentimentalität abdriftet, ist der große Verdienst von Jim Sheridan, der kein Tränendrüsen-Drama fabrizieren, sondern dem Publikum eine Geschichte mit Herz und Tiefgang präsentieren wollte. Und das gelingt ihm exzellent. Sheridan erweist sich wieder als Meister der Emotionen. So sei ihm auch verziehen, dass er seiner Familie am Ende doch noch ein Schlupfloch aus einer schier ausweglosen Lage offen hält und er damit einen dezent märchenhaften Ton anschlägt, der aber nicht mit dem Grundton der Geschichte kollidiert. Denn trotz der Tristesse und Armut sind seine Protagonisten keine Opfer, die sich ihrem Schicksal ergeben. Sie pflegen die Hoffnung, geben niemals auf. Ganz nebenbei liefert Sheridan auch noch ein liebevolles Porträt des armen New York jenseits der Upper East Side ab. Stilvoll fotografiert von Declan Quinn und mit einem Score von Gavin Friday versehen, pulsiert hier das Leben – wenn auch nach anderen Gesetzen und mit anderen Zielen. Es geht nur darum, zu überleben und ein kleines bisschen Glück zu finden.

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