Ein lesbisches Erwachen in fünf Jahreszeiten
Von Michael MeynsComing-of-Age-Erzählungen gibt es wie Sand am Meer, auch das Feld der queeren Selbstfindungsgeschichten wurde schon oft beackert. Den Ansatz, den die Französin Hafsia Herzia in „Die jüngste Tochter“ wählt, überrascht trotzdem: In ihrem dritten Spielfilm erzählt die Regisseurin in fünf nach den Jahreszeiten benannten Kapiteln von einer jungen Muslima, die in einem Banlieue von Paris aufwächst und erst langsam entdeckt (und noch langsamer akzeptiert), dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt.
Stilistisch bleibt das zwar etwas spröde, auch erzählerisch holpert es ein wenig. Trotzdem ist es nicht nur Herzias dezidiert weiblicher Blick auf eine lesbische Coming-of-Age-Geschichte, der ihren Film interessant macht. Noch viel mehr überzeugt die Entscheidung, sich von den allzu bekannten Mustern ähnlicher Filme zu lösen und ihre Protagonisten vor allem gegen innere statt äußere Hindernisse kämpfen zu lassen.
Als jüngste von drei Töchtern wächst Fatima (Nadia Melliti) in einem Vorort von Paris auf. Es ist Frühling, das Schuljahr geht langsam zu Ende. Fatima wird ihren Abschluss machen, darauf haben die zwar traditionell muslimisch lebenden, aber doch liberalen Eltern bei allen drei Töchtern hingearbeitet. In der Schule hängt die meist Jogginghosen und Fußballtrikots tragende Fatima lieber mit den Jungs ab, trotz ihres pubertären Machogehabes und der sexistischen Sprüche. Sie selbst hat einen Freund, den sie nur im Geheimen trifft, und offenbar auch eher, weil die Gesellschaft und ihre Religion das von ihr erwarten.
Denn eigentlich steht Fatima auf Frauen. Eine Erkenntnis, die sie zunächst noch im letzten Schuljahr, dann in den ersten Unimonaten nur langsam zulässt. Bei einer Online-App sucht sie nach Dates, die sie erst mal nur zum lesbischen Sex ausfragt, bevor sie ihn dann irgendwann auch tatsächlich hat. Aber selbst, als sie die Medizinstudentin Ji-Na (Ji-Min Park) kennen und lieben lernt, ist ihre sexuelle Orientierung für Fatima weiterhin alles andere als eine offen gelebte Selbstverständlichkeit…
Das französische Kino ist reich an Filmen über die Banlieues, jene verrufen Metropolen-Vororte, in denen in vergleichsweise günstigen Wohnblocks oft Familien mit migrantischem Hintergrund leben. Aus einem dieser Banlieues stammt auch die Autorin Fatima Daas, die vor fünf Jahren den autobiografischen Roman „Die jüngste Tochter“ veröffentlichte. Hafsia Herzia wiederum hat ihre Karriere als Schauspielerin begonnen. Gleich ihre erste Kinohauptrolle in „Couscous mit Fisch“ brachte sie mit Abdellatiff Kechiche, einem der ersten wirklich erfolgreichen französischen Regisseure aus dem Maghreb, zusammen. Und natürlich erinnert „Die jüngste Tochter“ unweigerlich auch an Kechiches Goldene-Palme-Gewinner „Blau ist eine warme Farbe“ – ein vielleicht unfairer Vergleich, den er in mancherlei Hinsicht auch verliert, zugleich aber an anderen Stellen auch auf interessante Weise gewinnt.
Der Versuch, keine kleine, intimen Geschichte zu erzählen, sondern einen großen Bogen zu schlagen, geht nur bedingt auf. In kaum 100 Minuten erzählt „Die jüngste Tochter“ in fünf Kapiteln die Geschichte von einem Frühjahr bis zum nächsten, wobei manche Entwicklungen allerdings holprig wirken. Sie scheinen mitunter eher den Notwendigkeiten des Drehbuchs geschuldet zu sein, als tatsächlich organisch aus den Figuren heraus zu entstehen. Gleich zu Beginn wird Fatima etwa in der Schule von einem schwulen Mitschüler als Lesbe bezeichnet – ein Vorwurf oder eine Feststellung, die sie dazu verleitet, den Mitschüler zu verprügeln. Es ist zugleich die Initialzündung dafür, sich einzugestehen, was sie ist und wen sie liebt. Aber es ist eben auch nicht der einzige derart abrupte Moment.
Was Herzia ihrem Mentor Kechiche allerdings voraus hat, ist ihr weiblicher Blick, der zu einer viel sensibleren Darstellung weiblicher Sexualität führt, als man es bei Kechiche jemals gesehen hat. Wirken dort die ausgiebigen Sexszenen oft beinahe schon pornografisch, verzichtet Herzia fast vollständig auf Nacktheit, ohne dass Fatimas auch sinnliches Erwachen deshalb weniger mitreißend wirken würde. Es sind vor allem Szenen auf Partys oder in Clubs, Bewegungen, Berührungen, die andeuten, wie sich Fatima langsam verändert, wie sie aus ihrer aufgesetzten harten Schale ausbricht und ihr Verlangen langsam zulässt.
Was die Coming-of-Age-Geschichte aber tatsächlich ungewöhnlich macht, ist das Fehlen von äußeren Hindernissen. Als Zuschauender wartet man geradezu darauf, dass Fatima irgendwann von ihren Eltern oder ihrem Umfeld zur Rede gestellt wird, dass sie gerade als Muslima für ihre lesbischen Gefühle verurteilt wird. Doch nichts dergleichen passiert (zumindest nicht explizit). Man mag das möglicherweise als unrealistisch bezeichnen, aber es hebt „Die jüngste Tochter“ auf jeden Fall wohltuend von vielen anderen schwulen oder lesbischen Coming-of-Age-Geschichten ab.
Nicht zuletzt dank der überzeugenden Darstellung der Debütantin Nadia Melliti gelingt es Herzia so, vom langsamen Wandel einer jungen Frau zu erzählen, die vor allem mit Hindernissen zu kämpfen hat, die sie sich selbst in den Weg stellt. Erst als es Fatima gelingt, ihr Muslima-Sein und ihr Lesbisch-Sein als zwei Facetten ihrer Persönlichkeit und nicht länger als unüberbrückbare Widersprüche zu akzeptieren, findet sie (fast?!) ganz zu sich selbst.
Fazit: Nicht alles an Hafsia Herzias ambitioniertem Coming-of-Age-Drama überzeugt, vor allem stilistisch und erzählerisch gibt es noch Luft nach oben. Was „Die jüngste Tochter“ aber trotzdem unbedingt sehenswert macht, ist die alle Erwartungen unterlaufende Entscheidung, die Hauptfigur nicht mit äußeren, sondern vor allem mit ihren inneren Hindernissen zu konfrontieren.
Wir haben „Die jüngste Tochter“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.