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    Alle die du bist
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Alle die du bist

    Wer bist du, und wenn ja, wie viele?

    Von Jochen Werner

    Alles fängt mittendrin an, inmitten einer Krisensituation. Paul ist ausgerastet. Er hatte ein Vorstellungsgespräch, ein sehr wichtiges obendrein – und weil Paul mit solchen Situationen nicht gut umgehen kann, ist er einfach aus dem Büro gerannt und hat sich eingesperrt, irgendwo in einem Heizungskeller. Einige sehr aufgeregte Menschen stehen vor dem verbarrikadierten Durchgang und reden auf Paul ein, doch der gibt keinen Mucks von sich. Erst als seine Frau Nadine (Aenne Schwarz) auftaucht, kommt Bewegung in die verfahrene Situation, denn Nadine findet nicht nur einen Weg, über die Barriere zu klettern, sondern auch einen Zugang zu Paul.

    Sie ist die einzige, die immer einen Zugang zu Paul findet. Als sie näher kommt, sehen wir einen großen Stier, wütend und kraftstrotzend. Aber Nadine redet beruhigend auf das Tier ein, umarmt es fest und schmiegt sich liebevoll in das weiche Fell hinein. In Nadines Armen wird der schnaubende Bulle zum kleinen Jungen, der selbst erschrocken scheint von dem, was sein animalisches Ich angestellt hat. Sie führt das Kind aus dem Versteck heraus, wo es sich brav und kleinlaut entschuldigt und um eine weitere Chance für eine Wiederholung des Vorstellungsgesprächs bittet.

    Studio Zentral / Network Movie / Contando Films
    Nadine (Aenne Schwarz) unterstützt ihren Mann – ganz egal, mit welchem seiner Ichs sie sich gerade auseinandersetzen muss.

    Gleich in dieser ersten Szene offenbart sich das zentrale narrative Gimmick von „Alle die Du bist“, denn wir erleben den Film in den folgenden knapp zwei Stunden aus der radikal subjektiven Perspektive von Nadine – und sehen Paul, der erst nach einigen Filmminuten als er selbst (nämlich in der Gestalt des Schauspielers Carlo Ljubek) auftaucht, als kleines Kind, als flapsig-unsicheren Teenager, und sogar als grauhaarige, umsorgende Großmutter. Und eben, wenn seine kreatürliche Seite die Oberhand gewinnt, auch als wutschnaubenden Stier. Das erscheint zunächst einmal als ein formaler Trick, der eine gewisse humoristische Verspieltheit ausstrahlt – eine keineswegs fern liegende Vermutung, gerade auch weil Regisseur Michael Fetter Nathansky zuletzt auch am Drehbuch für die Meta-Filmsatire „The Ordinaries“ beteiligt war.

    Aber erfreulicherweise brechen hier Unernst und Spieltrieb nie so ganz durch, die Grundstimmung von „Alle die Du bist“ bleibt düster, und streckenweise verliert man das Gimmick mit den multiplen Persönlichkeiten von Paul gar so weit aus den Augen, dass man sich zu fragen beginnt, ob es überhaupt wirklich notwendig ist. Denn als Beziehungs- und (Patchwork-)Familiendrama im Arbeitermilieu des zukunftslosen Kohlebergbaus würde Fetter Nathanskys Film auch ohne diesen formalen Kniff funktionieren. Eine weitere Tiefenebene fügt er dem Film dann aber doch hinzu – denn dass Paul zunächst einmal in seiner eigentlichen Gestalt lediglich auf Fotografien und in Rückblenden zu sehen ist, macht auch uns Zuschauer*innen den Zweifel, der an Nadine zu nagen beginnt, spürbar. Wo ist eigentlich der Mann, in den sie sich einst verliebt hat? Warum sieht sie, wenn sie ihn anschaut, den kleinen Jungen, den Teenager, die Großmutter und den Stier. Und warum so selten einfach nur Paul?

    Aenne Schwarz ist ein Ereignis – und genau so eine Performance braucht der Film auch!

    „Alle die Du bist“ versucht dem, was da mit dieser Ehe geschehen ist, auf zwei abwechselnd und in unterschiedlichen Bildformaten präsentierten Zeitstrahlen auf den Grund zu gehen. Der eine führt von der ersten Begegnung übers Verlieben nach und nach an die Gegenwart heran. Und der andere beschreibt eine Zerrüttung, von der wir ahnen, dass sie vielleicht nicht mehr zu kitten ist. Um diese fühlbar zu machen, braucht es – gerade weil sie mit den immer wieder wechselnden Inkarnationen ihres Gegenübers konfrontiert ist und in der Interaktion mit ihnen im Grunde auch dessen Figur zusammenhalten muss – dringend eine Hauptdarstellerin von Format. Da ist es ein großes Glück für Michael Fetter Nathansky und seinen Film, dass Aenne Schwarz („Alles ist gut“) über dieses Format verfügt.

    Mit traurigen, abgekämpften Augen stürzt sich ihre Nadine in eine Schlacht nach der anderen, sei es im Beruf, wo sie zur Wortführerin im Kampf gegen die Abwicklung ihrer auf die Wartung von Bergbaumaschinen spezialisierten Firma wird, oder im Privatleben, wo sie sich vielleicht schon allzu sehr daran gewöhnt hat, sich nicht nur für die eigenen, sondern auch für Pauls Konflikte verantwortlich zu fühlen. Es ist im Kern vielleicht vor allem ein Film über eine Beziehung mit einem psychisch labilen Menschen, und über die vielen Rollen, in die man sich in einer solchen Beziehung zwangsläufig hineingepresst findet. Nadine ist Mutter, Therapeutin, Ärztin für ihren immer wieder mit der Außenwelt überforderten Partner – und stellt irgendwann fest, dass sie ihn als Partner nicht mehr wiederfindet.

    Eine Welt, die im deutschen Kino sonst eine viel zu kleine Rolle spielt

    „Alle die Du bist“ ist die Geschichte ihres Kampfes um ihre Beziehung, ein Kampf, den sie mit wilder Entschlossenheit, aber auch zunehmend verzweifelt und desillusioniert annimmt. Dass diese Nadine ein Mensch ist, der vielleicht immer nur den Kampf gekannt hat und für den das Aufgeben nie eine Option war, das ahnen wir früh im Film. Aber wie Nadine müssen auch wir lernen, die Möglichkeit anzunehmen, dass sie diesen Kampf vielleicht nicht gewinnen wird. Und auch, dass sich dieser Kampf in einer Welt zuträgt, die dem deutschen Kino schon seit einer ganzen Weile ein Stück weit abhandengekommen zu sein scheint – in einem proletarischen, eher bildungsfernen Arbeitermilieu, das weitab von jeder Sozialromantik ums ökonomische Überleben und gegen das eigene Obsoletwerden in einer sich rapide verändernden Welt kämpft. Schon das macht diesen schönen und oft ergreifenden Film zu einer wirklich erfrischenden neuen Stimme im deutschen Kino.

    Fazit: Was anfangs noch ein wenig zu sehr in sein eigenes formales Konzept verliebt scheint, entwickelt sich zum intensiven, traurigen Endspiel einer Beziehung unter dem Druck von beruflicher Existenzangst und psychischer Krankheit – getragen von einer großartigen Hauptdarstellerin. Das Spiel von Aenne Schwarz ist ein Ereignis, für das allein man „Alle die Du bist“ schon nicht versäumen darf.

    Wir haben „Alle die Du bist“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er in der Sektion Panorama gezeigt wurde.

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