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    Der Mann, der zuviel wusste
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Der Mann, der zuviel wusste
    Von Ulrich Behrens

    1934 hatte Hitchcock bereits seinen 18. Film gedreht. Der hieß „The Man Who Knew Too Much“ und die Hauptrollen spielten Leslie Banks, Edna Best und Peter Lorre (vgl. Beier, S. 276). 1956 griff Hitchcock die gleiche Geschichte noch einmal auf (sein einziges Remake), änderte lediglich die Lokalitäten, passte die Kleidung den Zeitumständen an und blieb ansonsten bei der Geschichte der ersten Verfilmung – allerdings entwickelt er das Thema wesentlich spannender und subtiler. Und das Thema ist einmal mehr, dass der unbescholtene, normale Durchschnittsbürger in ein Gespinst von Mord, Lügen und anderen Verbrechen hineingezogen wird.

    Die McKennas, eine amerikanische Durchschnittsfamilie, befinden sich im Urlaub in Marokko. Dort lernen sie den Franzosen Louis Bernard (Daniel Gélin) kennen, der die McKennas zum Abendessen einlädt. Doch kurz vorher sagt Bernard ab. Statt dessen verbringen sie den Abend mit dem englischen Ehepaar Drayton (Brenda de Banzie und Bernard Miles).

    Als die Familie am nächsten Tag über den Markt in Marrakesch spaziert, kommt es zu einem Zwischenfall: Ein Araber wird rücklings erstochen und bricht direkt vor Ben McKenna (James Stewart) zusammen. Hinter der Verkleidung erkennt Ben Louis Bernard, der ihm im Sterben ins Ohr flüstert, in London solle ein Attentat auf einen Politiker stattfinden. Ben und Jo (Doris Day) beschließen, die Polizei zu informieren. Aber ein Anruf hält Jo davon ab. Unbekannte haben den Sohn der McKennas Hank (Christopher Olsen) entführt und drohen mit seiner Ermordung, falls McKenna seine Information über den geplanten Mord an die Polizei weitergibt. Die McKennas beschließen, ihren Sohn selbst zu suchen und fliegen nach London. Die Suche nach Hank gestaltet sich schwierig; doch schließlich treffen Ben und Jo in einer Kirche auf die Draytons – und ihren Sohn Hank. Jo will Hilfe holen. Währenddessen wird Ben niedergeschlagen. Die Entführer verschwinden mit Hank ...

    Wie in vielen seiner Filme macht Hitchcock uns auch in „The Man Who Knew Too Much“ zu seinem voyeuristischen Komplizen. Zu Beginn des Films sieht man den Meister, wenn auch nur von hinten, als er Akrobaten zuschaut. Er steht dort für das Publikum: „Seht her! Ich mache Euch zu Zeugen des Verbrechens, gnadenlos.“ Für die McKennas hat die Tortur, der Ausstieg aus dem „normalen“ Leben längst begonnen. Hitchcock und wir aber warten, bis sich das Drama zuspitzt, können es kaum erwarten, wie Ben und Jo reagieren werden, nachdem ihr Sohn entführt wurde. Wir wollen diesen Alptraum, wir wollen ihn in seinen ganzen Ausmaßen auskosten bis zum bitteren Ende, das – jedenfalls in diesem Streifen – nicht so bitter ist wie etwa in „Vertigo“ (1957).

    Das Bittere liegt hier viel mehr in dem Auseinanderklaffen zwischen Schein und Wirklichkeit, denn im Ausgang der Handlung. Der in der Fremde unbeholfen agierende Amerikaner, der sich an die marokkanischen Sitten (z.B. beim Essen anfangs des Films) nicht gewöhnen kann und letztlich gar nicht will, gerät in einen Raum der Unsicherheit, des Ungewohnten, des Nicht-Abschätzbaren, in dem er sich versucht zurecht zu finden, aber in dem letztlich nur sein Inneres protestiert. Während Stewart in seiner Unsicherheit leicht aggressiv reagiert, verkörpert Doris Day als jugendliche Ehefrau, ordentliche Mutter, biedere und konservative Amerikanerin zwar nicht die Ruhe in persona, aber den um Ausgleich bemühten Kumpel an der Seite des amerikanischen Touristen, ihres Mannes, im Ausland. Letztlich aber sind beide in die Ungewissheit geworfen – die Vorstufe zu Angst und Gefahr, die wiederum – für beide überraschenderweise – nicht aus dem Fremden resultiert (Marokko), sondern aus dem Eigenen (denn die potentiellen Mörder stammen aus dem Kulturkreis der McKennas). Hitchcock bricht radikal mit dem Schein der vermeintlichen Sicherheit des american way of life und der damit verbundenen, „verblendeten“ Mentalität – nicht im Sinne einer Fundamentalkritik, sondern der Rückführung dieser Lebensart auf ein realistisches Maß, wenn man es einmal so ausdrücken will. In den Farben der Anfangssequenzen des Films wird dies besonders deutlich: Marrakesch leuchtet in exotischen Farben, für die beiden amerikanischen Touristen ungewohnt und fremd. Die weißen Streifen im Gesicht Louis Bernards, die blauen Spuren auf dem Markt aber symbolisieren die „importierte“ Gefahr, sind zugleich Schein wie Andeutung der Angst.

    Das berühmte Lied, das Doris Day in diesem Film singt, „Que sera, sera“, potenziert diese Stimmung, in die Hitchcock uns führt: „Whatever will be, will be, the future’s not ours to see.“ Diese Unsicherheit, die Zukunft zu bestimmen, führt Hitchcock in die offene, brutale, brachiale Angst und Bedrohung über – ohne Wenn und Aber, ohne Mitleid. Weder die Draytons, noch Louis Bernard, noch der Priester sind diejenigen, für die sich gegenüber den McKennas ausgeben. Jo und Ben wird auf ungeschminkte Art bewusst gemacht, dass sie nur eine Chance haben: das Risiko einzugehen, die existenzielle Unsicherheit zu akzeptieren und trotzdem, gerade deswegen so weit wie möglich selbst zu agieren.

    Wie in fast keinem anderen Film setzt Hitchcock die Musik ein, um den Suspense auf den Höhepunkt zu bringen. In der berühmt gewordenen Szene in der Royal Albert Hall, die zehn Minuten dauert und mit dem Schrei von Doris Day endet, zieht sich der Spannungsbogen fast unerträglich hin zum Beckenschlag, dem Moment, in dem der Mörder den Botschafter töten soll. Hier ist selbst die vom Orchester gespielte Kantate nur Schein, nicht einfach Musik, Genuss, sondern Ouvertüre des Todes.

    Als James Stewart in der Albert Hall erscheint, verständigt er sich in Zeichensprache mit Doris Day. Die ganze Szene kommt ohne Dialoge aus. Stewart will in die Loge des Botschafters, aber um das zu erreichen, muss er an Polizisten vorbei, das heißt, einen nach dem anderen überzeugen, dass etwas Furchtbares passieren wird. Die Kamera schwenkt zwischen diesen Versuchen Stewarts zu Doris Day, die zunächst den Saal mit den Augen nach dem Mörder absucht, hin zur Mörder-Loge, dann wieder ein Großbild des Saales, die Loge des Botschafters, die Pauke, der Beckenspieler – wirklich fast unerträglich spannend. Selten ist Suspense durch Bild und Musik derart glänzend gelungen.

    Mehr als andere Filme ist „The Man Who Knew Too Much“ eine Achterbahnfahrt durch Schein und Betrug, Selbstbetrug und Angst. Selbst der Titel des Films ist Schein. Denn Stewart weiß tatsächlich zu wenig. Die Information über den geplanten Mord durch Gélin stürzt ihn und Doris Day in diese Achterbahn, und erst wenn sie diese Fahrt heil überstanden haben, dürfen sie nach Hause – geläutert.

    (1) Vgl. Beier/Seeßlen (Hrsg.): Alfred Hitchcock, Berlin 1999, S. 276 ff.;zum Remake von 1956 ebd. S. 378-381; vgl. auch: François Truffaut (in Zusammenarbeit mit Helen G. Scott): Truffaut / Hitchcock, München / Zürich 1999 (Diana-Verlag) (Originalausgabe: 1983), S. 71 ff.; zum Remake ebd. S. 191-198.

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