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    Der eiskalte Engel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Der eiskalte Engel
    Von Hans Riegel

    Nichts erstickt das Individuum wesentlicher als ewige Zeit, nichts entfacht es unbewusster als unendliche Möglichkeiten. Scheinbar enthemmt tanzt ein zauberisches Feuer um den Menschen, das seinen Geist beschwingt in die Höhe weht; und mit dem Verbrennen der Ordnung greift das Gespenst der Freiheit in ihn und fasst ihn ganz sicher und ruhig und fest, bläst ihm ein seinen feurigen Odem. Doch der freie Mensch glüht sodann auf in einem anarchischen Taumel, denn aller Entsagung wohnt der Keim einer Verlorenheit inne, einer zweiflerischen Verlorenheit im Universum der Gelegenheiten, ebenso verführerisch wie verhängnisvoll. Wie also soll er wählen, wenn nicht aus einer Unbedachtheit, die Überforderung bedeutet? Wählen heißt sich umsehen und den Zeichen folgen. Indem wir jedoch Gott getötet haben, warfen wir jegliches allzeit gültige Kriterium dem Feuer zum Fraße vor. Der Einzelne aber ist deshalb nicht seiner Immanenz enthoben – ewiglich steht er vor der Wahl. Und stets lockt noch das Gespenst mit seinen Reizen: Im kahlen, gleichsam grauen Paris des Jahres 1967 spielt Jean-Pierre Melvilles Thriller-Drama „Der eiskalte Engel“ – nicht schon im wieder entdeckten Blau des Mai, doch in dessen weiser Voraussicht. Ist das Bewusstsein wach und von jenem liberalen Nous geküsst, dürstet es nach neuen, eigenen Maximen des Daseins. Man kann diese finden in der Religion, in Sekten, indem man Philosoph wird oder Todesengel.

    Jef Costello (Alain Delon), der Held des Films, ein schizoider Auftragsmörder, lebt nach dem Kodex des Bushido. Seine Maxime sind die des Samurai, seine diesseitige Erfüllung ist das Sterben – und ein Held ist er nicht. Er selbst schlägt seine Wurzeln in diesen Grund, zieht sich, durch psychische Disposition befördert, zurück in den heimlich wärmenden Schoß einer Philosophie des Dienens. Doch sich in einer mannigfach freien Welt das universelle Gefängnis zu wählen, ist – für den, der zusieht – sowohl eine traurige Bezeugung als auch eine drakonische Exegese von existenzialistischem Selbstentwurf. Indem aber Jean-Pierre Melville aus der Figur Costellos einen amoralischen und kraftvollen Tiger im Großstadtdschungel von Paris macht, ein von Kälte umwittertes, inhärent einsames Raubtier, welches a priori niemandem und durch Selbstbestimmung einzig einem unbelebten, fremden Gesetz sich verpflichtet fühlt, schafft er mit ihm seinerzeit ein kulturhistorisches Paradigma, einer obsoleten Ära entwachsen, die unweigerlich untergeht, wenn der Wechsel durch die Zeit vollzogen ist. Dem Tiger gleich, streift Costello jagend und schließlich mordend durch jenes Dickicht, ist gefährlich für jedermann und doch nie in Gefahr, bis eines Tages der Zufall, begleitet von einer unerfindlichen Pianistin (Cathy Rosier), mit seinem Plan interferiert und dergestalt demonstriert, dass die Melodie der Existenz nicht gegen Dissonanzen gefeit ist, dass neben dem Selbst- unaufhörlich auch der Fremdentwurf ins Leben hineinspielt: die Hölle, das sind (noch immer) die anderen.

    Hier gleich zwiefach. Nach erfülltem Auftrag wird Costello von der Polizei aufgegriffen und einer Gegenüberstellung unterzogen. Ein alter Mann erkennt ihn, andere, jüngere zweifeln. Der Kommissar (François Périer) ist von seiner Schuld überzeugt: Er hat den Mord an dem Clubbesitzer Martey begangen. Die Polizei also – in ihrer Repräsentation des Staatsapparates – konfrontiert die anomale Ausgeburt der Nacht, diesen fremdartigen Mann mit verschiedenen Konfusionsversuchen, welche samt und sonders fehlschlagen. Einerseits, weil sich Costello ruhig verhält und ein Alibi verschafft hat, andererseits, weil ihn eine Augenzeugin wider besseres Wissen nicht identifiziert. Costello ist nun von zwei Frauen bedroht, zwei Femmes fatales. Doch sind diese Gefahren, für den Film noir unüblich, lediglich potenzielle, die sich nicht aktualisieren. Vom daraufhin unruhig gewordenen Auftraggeber selbst auf die Abschussliste gesetzt, ist die Lehnstreue für den Samurai nichtig; er richtet sich gegen seinen einstigen Herrn. „Der eiskalte Engel“ bricht mit der Tradition; äußerlich entstammt Costello dem filmischen Vorbild „Die Narbenhand“ von 1942 und wird anschließend selbst eines (The Killer, 1989; Ghost Dog, 2000), inwendig jedoch tobt ein Krieg, und die Zukunft wird der Sieger sein; äußerlich inszeniert Melville minimalistisch und bedächtig einen Mord und seine Konsequenzen und schafft damit eine Ikone, inwendig kulminiert der Strom der Zeit in latenter, unterkühlter Aufwallung, in einem himmelhoch jauchzenden, zu Tode betrübten Fatalismus. Viel Zeit verwendet er, um die Routine darzustellen, in der Costello lebt. Doch ist die einmal durchbrochen, verbringt er die übrige Zeit damit, die Existenz seines Helden zwischen Zufall und Sozietät zu zerbrechen.

    Jean-Pierre Melvilles großer Wurf ist ein stilisiertes Oberflächenphänomen, ein kühles Maskenspiel, hinter dessen matt-düsterem Antlitz eine Eruption im Denken losbricht, die sich fortpflanzt in der Zeit, die nachfolgt. Das, was man Gesellschaft nennt, ist nichts als ein Schauspiel, welches von einem Darsteller für die anderen gegeben wird, ein Theater, in welchem alle Zuschauer auf der Bühne stehen. Jef Costellos Rolle ist eine tragische. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass letztlich wir selbst entscheiden, welches unsere Rolle sein möge. Es entfacht unsere Kräfte und es erstickt sie, wenn wir heute dieser notwendigen Entscheidung entgegensehen. Denn wie groß wir uns dank der Schwingen der Möglichkeiten auch wähnen, wenn wir auf Zwerge im Geiste herabschauen, wenn wir Gottheiten in der Petrischale zermalmen: als Winzigkeit im Nichts versinkt all unser Handeln hienieden, versinken wir im Angesicht der Ewigkeit. „Ich verliere niemals. Niemals wirklich“, orakelt Costello. Und am Ende lacht er. Wir haben das bloß nie gesehen...

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