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    Geliebte Lügen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Geliebte Lügen
    Von Carsten Baumgardt

    Der britische TV-Film gehört zu den angesehensten der gesamten Filmwelt. Dort wird hochwertige Qualitätsware en masse produziert. Somit ist das Fazit von US-Kritiker Nicholas Schager von filmcritic.com gar nicht einmal so krumm zu nehmen, wie es wohl gemeint war. Er wähnt Julian Fellowes’ Charakterdrama „Separate Lies“ (deutsch mit „Geliebte Lügen“ schlecht und unzutreffend umgetitelt) als perfekt-soliden Film für eine Ausstrahlung in der BBC oder dem US-Sender PBS – in Anspielung auf die kammerspielartige Optik, die nur selten durch spröde, aber wundervoll-raue Bilder gebrochen wird. Die Crux dieser Aussage: Oft wird die Qualität von Hollywood-Standardwerken bemängelt, kritisiert oder gar geschmäht. Und hier ist ein brillanter Film und der gehört einfach ins Kino, wo er entsprechend wahrgenommen und gewürdigt werden kann.

    James Manning (Tom Wilkinson) ist ein erfolgreicher Londoner Anwalt, der nach eigener Ansicht mit seiner Frau Anne (Emily Watson) eine perfekte Ehe führt. Das Paar zog sich aus der hektischen britischen Metropole auf einen Landsitz in Buckinghamshire zurück und führt ein sorgenfreies Leben in der Oberschicht. Vor lauter Selbstzufriedenheit merkt James nicht, dass sich seine wesentlich jüngere Frau langweilt. Sie beginnt eine scheinbar zwangslose Affäre mit dem attraktiven Bill (Rupert Everett), einem Bekannten der Mannings. James, der beruflich sehr eingespannt ist, bemerkt von der Untreue seiner Frau zunächst nichts. Erst ein tragischer Unfall stellt das Leben der Mannings auf den Kopf. Der Mann ihrer Haushälterin Maggie (Linda Bassett) wird von einem Land Rover angefahren und getötet - der Unglücksfahrer flüchtet unerkannt. Nach Ermittlungen von Inspector Marshall (David Harewood) stellt sich heraus, dass Bills Auto, das vorrübergehend auch noch eine verdächtige Unfallbeule aufwies, am Tatort gesehen wurde. Doch, was niemand ahnt: Bill saß nur auf dem Beifahrersitz, den Wagen steuerte Anne...

    Der in Kairo geborene Brite Julian Fellowes, Jahrgang 1949, hat einen erstaunlichen Werdegang hinter sich. Jahrelang schlug er sich in der zweiten Garde des britischen Kinos durch, spielte aber neben vielen TV-Rollen immerhin auch in Filmen wie „Jane Eyre“, „James Bond 007 – Der Morgen stirbt nie“ oder „Verhängnis“ mit. Doch das war Fellowes auf die Dauer zu wenig. 1995 schrieb er sein erstes Drehbuch für das britische Fernsehen („Little Lord Fauntleroy“), aber der große Durchbruch gelang ihm 2001 mit seinem brillanten Skript zu Gosford Park, das auch mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Nach Drehbüchern zu Zwei Brüder und Vanity Fair geht Fellowes nun noch einen Schritt weiter und feiert mit „Separate Lies“ ein exzellentes Regiedebüt. Die Verfilmung des Romans „A Way Through The Wood“ von Nigel Balchin ist meisterhaft inszeniertes Erwachsenenkino, eine Kombination aus Charakterstudie, Thriller und Liebesdrama.

    Fellowes zeigt seine Protagonisten zunächst an deren perfekter, funkelnder Oberfläche. Im Beruf läuft alles gut, am Sonntag wird Cricket gespielt und wenn James nach Hause kommt, steht das kunstvoll arrangierte Abendessen auf dem Tisch. Einen gepflegten Whisky dazu und die Welt der Mannings ist makellos. Doch diese Fassade wird nach dem tragischen Unfall nach und nach mit unnachgiebiger Härte konsequent demontiert. Die Ehe der Mannings und die Charaktere von James und Anne erscheinen plötzlich in einem ganz anderen, überraschenden Licht. Die Vorzeichen kehren sich um. Das Publikum kann sich nie sicher sein, ob die moralische Einschätzung der Figuren korrekt und von Bestand ist. Neben dem fantastisch konstruierten Drehbuch von Fellowes, der immer mehr Details, kleinere und größere Twists einstreut und die Geschichte um Liebe, Verrat, Betrug und Tod mit Genuss auf die Spitze treibt, ist es das überragende Spiel der drei Hauptdarsteller, das „Separate Lies“ zu einem kleinen cineastischen Ereignis macht.

    Emily Watson (Punch-Drunk Love , Gosford Park, Roter Drache) gelingt es geschickt, das Publikum an der Nase herumzuführen. Die Britin überzeugt mit einer starken Vorstellung, sie spielt die Vorzüge und Abgründe ihres Charakters meisterhaft aus. „Fuck Bill“, blafft James seine Frau Anne an, als er - in dem Glauben, Bill habe den Unfall ausgelöst - klar macht, ihn nicht decken zu wollen. „That’s the thing. I fucked Bill… or rather he fucks me”, entgegnet Anne und beendet damit schlagartig das bisherige Vorzeigeleben der Mannings. Ein packender Moment, der exemplarisch für das herausragende Spiel des Duos Watson/Wilkinson steht. Spektakulär ist auch der Auftritt von Rupert Everett („Die Hochzeit meines besten Freundes“, Stage Beauty, Ernst sein ist alles), der als Inbegriff von zynisch-sarkastischer Coolness auftrumpft – eine Paraderolle für Everett, der mit aufreizender Arroganz agiert und für einiges an spitzem, trockenem Humor sorgt.

    Die superben Leistungen von Watson und Everett werden jedoch von Tom Wilkinson („Ganz oder gar nicht“, In The Bedroom, Der Exorzismus von Emily Rose, Batman Begins) noch in den Schatten gestellt. Der Veteran aus Leeds erspielt sich den Anspruch auf eine Oscarnominierung, die ihm die Academy zu unrecht verwehrt hat. Glaubt der Betrachter zu Beginn noch, einen karrieregeilen englischen Oberschichtspießer vor sich haben, ist es Wilkinsons Verdienst, dass diese Meinung schrittweise revidiert werden muss, bis er am Ende emotional herzzerreißend, völlig entblößt da steht und eine Ehrlichkeit ausstrahlt, die unter der Maßgabe, Gefühle immer streng unter Kontrolle zu halten, befreiend wirkt. Die verkrustete Starrheit und gespielte Haltung der Akteure bricht auf und führt die Geschichte weg von der Lüge hin zur Wahrheit.

    Regisseur und Autor Fellowes setzt sein Augenmerk schwerpunktmäßig auf das Charakterdrama. Die Thrillerhandlung löst er zwar clever, aber recht früh auf. Dramaturgisch ist der folgende Handlungsstrang zwar fragwürdig und unkonventionell, aber zum Verstehen der Figuren ist er nötig und wichtig. So ist „Separate Lies“ ein kleines Juwel, das Freunde des Programmkinos begeistern wird. Fast wirkt der Film wie ein Gosford Park für die Gegenwart, ist scharfes Porträt der britischen Upper Class wie menschliches Drama und brillantes Charakterkammerspiel gleichzeitig - abgerundet durch wunderschöne, herbe Bilder (Kamera: Tony Pierce-Roberts, Underworld, Ernst sein ist alles), welche die Atmosphäre des Films fein unterstreichen. Very British, very good...

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