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    Die Hausschlüssel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Die Hausschlüssel
    Von Carsten Baumgardt

    Extreme. Das ist das Stichwort zu Gianni Amelios Road-Movie-Drama „Die Hausschlüssel“ – frei nach Guiseppe Pontiggias Roman „Zwei Leben“. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Hollywood diese warmherzige, aber spröde Geschichte um einen unsicheren Vater, der versucht, seinem behinderten Sohn einen Platz in seinem Leben einzuräumen, verfilmt hätte. Ein tränendrüsendrückendes unehrliches Rührstück wäre dabei mit großer Sicherheit herausgesprungen. Doch davon ist „Die Hausschlüssel“ so weit entfernt, wie nur irgendwie denkbar. Der Film ist ein nüchternes Kammerspiel, das durch einen fast schon beängstigenden Realismus und eine tiefe Ehrlichkeit der Figuren besticht.

    15 Jahre lang hat Gianni (Kim Rossi Stuart) seinen behinderten Sohn Paolo (Andrea Rossi) emotional verleugnet, ihn direkt nach der Geburt zu Verwandten abgeschoben und ihn in dieser Zeit nie mehr gesehen. Gianni plagt das schlechte Gewissen. Er begleitet Paolo zu einer Kontrolluntersuchung ins Charité-Krankenhaus nach Berlin. Sein Sohn leidet nach einer Zangengeburt an spastischer Tetraparese, ist geistig auf Vorschulniveau und halbseitig gelähmt, was ihm beim Gehen große Probleme bereitet. Die erste Begegnung der beiden macht Hoffnung. Sie mögen sich. Aber Paolo mag eigentlich jeden, der sich ihm nähert, was Gianni schnell als Problem ausmacht. Seine Annäherung ist voller Unsicherheit. Dies fällt auch Nicole (Charlotte Rampling) auf, die im Hospital ihre schwerstbehinderte Tochter Nadine (Alla Faerovich) betreut und ihn damit konfrontiert. Sie schließen Freundschaft, Gianni kann von Nicoles Erfahrung profitieren. Schritt für Schritt wollen Vater und Sohn ihre Entfremdung überwinden. Aber das ist schwieriger, als zwischenzeitlich gedacht...

    Guiseppe Pontiggias autobiographische Erzählung „Zwei Leben“ hat streng genommen mit Gianni Amelios „Die Hausschlüssel“ nicht viel gemeinsam. Die Vorlage wird nicht einmal in den Credits erwähnt. Pontiggias Geschichte ist in Mailand über den Zeitraum von 30 Jahren angelegt, Amelios Film spielt in Berlin und Norwegen innerhalb von einer Woche. Doch das nimmt bei der Verfilmung keine wichtige Rolle ein. Amelio („Gestohlene Kinder“, „Lamerica“) destilliert sich die Essenz des Romans heraus und fügt die Figuren in eine neue Umgebung ein. „Aus Respekt vor Pontiggia und seinen Lesern empfanden wir es als richtig, einen neuen Titel zu wählen, auch wenn der ursprüngliche sehr wirkungsvoll war“, berichtet der Regisseur.

    Das Thema ist alles andere als einfach. Die große Leistung Amelios besteht darin, mit seinem Film auf konsequent schnörkellose Weise ohne Umwege oder filmische Mätzchen tief zu berühren. Die Atmosphäre von „Die Hausschlüssel“ ist nüchtern und karg, aber dennoch liebevoll und vor allem ohne falsche Sentimentalität. Jeder wird Giannis holprige Bemühungen, seinem Sohn näher zu kommen, nachvollziehen können, weil er menschlich agiert. Die Fehler, die er macht, sind offensichtlich, aber ebenso verständlich. Erst in der Figur der Mutter Nicole findet Gianni Halt und Hilfe. Diese Beziehung mündet in der letzten Szene von Charlotte Rampling (Swimming Pool, The Statement, Immortal) mit einer emotional erschütternden Ehrlichkeit, die das Problem des Umgangs mit behinderten Kindern schonungslos offenbart.

    Kim Rossi Stuart (Pinocchio) und Charlotte Rampling sind in der Lage, den Film durch ihre hervorragenden schauspielerischen Leistungen zu transportieren - aller Tristesse zum Trotz. Nicht, dass „Die Hausschlüssel“ durchgehend deprimierend wäre, das ist er nicht. Er macht Mut, seine Augen vor Problemen nicht zu verschließen und sie stattdessen mit Vertrauen in die eigene Stärke anzugehen. Das spröde Drama hat herzerwärmende Momente der Komik, wenn der Zuschauer merkt, wieviel Lebensmut und auch Begabung in Paolo steckt. Er kann sein „Talent“ nur nicht auf einem konstanten Niveau halten, was Giannis Luftschloss von einem geregelten Leben mit seinem behinderten Sohn wie ein Kartenhaus zusammenbrechen lässt. Und weil Amelio hier nicht die Augen verschließt, sondern seinen Weg unbeirrt zuende geht, funktioniert „Die Hausschlüssel“ so gut. Ein Jahr lang begleitete der Regisseur seinen Hauptdarsteller Andrea Rossi in dessen Leben, lernte ihn kennen und baute sogar einige seiner Besonderheiten in den Film ein. Das, was Rossi bei seinem Leinwanddebüt zeigt, wirkt in jeder Einstellung natürlich, nicht gekünstelt und keinesfalls gespielt. Es ist schließlich auch echt.

    Amelio verzichtet bewusst auf die Manipulation der Zuschauergefühle. Er breitet sein subtiles Kammerspiel mit großer Sorgfalt aus, die Charaktere entwickeln sich natürlich, die klassische Dramaturgie spielt eine untergeordnete Rolle. „Die Hauschlüssel“ erweckt vor allem keinen falschen Eindruck. Am Ende liegen sich alle in den Armen und der Alltag mit einem behinderten Kind zu leben, ist ein Zuckerschlecken? Nein, hier sind wir wieder bei der vielbeschworenen brutalen Ehrlichkeit. Bei allem Lob muss sich jeder potenzielle Besucher klar sein, dass „Die Hausschlüssel“ kein einfacher Film ist. Stilmittel werden nahezu komplett ausgespart, das Erzähltempo ist eher behäbig und getragen als flott - aber alles das ist nötig, um die Wirkung entfalten zu können. Wen dies nicht abschreckt, der sollte eine Kinokarte lösen.

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