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    Tideland
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Tideland
    Von Nicole Kühn

    Wer sich einen Film von Terry Gilliam ansieht, der erwartet skurrile Personen, die in einer surrealen Welt merkwürdige Ereignisse erleben. Mit dem Fantasy-Drama „Tideland“, das der Regisseur selbst als eine Mischung aus „Alice im Wunderland“ und Psycho charakterisiert, wird er diesen Ansprüchen in vollem Umfang gerecht. Was ihm in diesem Feuerwerk von zugleich liebenswürdigen und beängstigenden Bilderwelten zu entgleiten droht, ist eine Dramaturgie, die dem Geschehen eine Richtung gibt. Nicht zuletzt durch die Länge des Films verliert man als Zuschauer irgendwann die Lust, dem Subtext hinter den symbolisch stark aufgeladenen Bildern nachzugehen.

    Als die Mutter der 11-jährigen Jeliza-Rose (stark: Jodelle Ferland) endgültig im Nirvana der Drogenabhängigkeit landet, beschließt der ebenso abgewrackte Vater Noah (köstlich: Jeff Bridges), mit dem pragmatischen Töchterchen zu seinen Wurzeln in die texanische Pampa zurück zu kehren. Dort nippelt auch er nach einem professionell von der Kleinen gesetzten Schuss ab – und bleibt weiterhin in seinem Schaukelstuhl sitzen, zunehmend verwesend. Allein in der ländlichen Abgeschiedenheit zurück geblieben, unterhält sich Jeliza-Rose fortan mit ihren Puppenköpfen und schließt Freundschaft mit zwielichtigen Figuren, die in einem benachbarten Farmhaus ein mehr als sonderbares Leben führen. Mit dem geistig zurück gebliebenen Dickens (Brendan Fletcher) verbindet sie eine zarte Liebe, die von der hexenhaften Queen Gunhilda (Jennifer Tilly) argwöhnisch beäugt wird. Und dann ist da noch ein sprechendes Eichhörnchen, das für Unruhe sorgt.

    Mit „Tideland“ übernimmt Kultregisseur Terry Gilliams einmal mehr die Reiseleitung in eine Welt voller verwirrender Figuren und Geschehnisse, deren Hintergründe dem logischen Verstand rätselhaft bleiben. Nach seinem unglücklichen Ritt durch die komplette Märchenwelt der Brothers Grimm konzentriert er sich hier wieder stärker auf die assoziative Innenwelt einer zentralen Figur. Ausgelöst vom traumatischen Verlust beider Eltern vervollkommnet das im Zentrum stehende Kind seine Strategie des Rückzugs in eine Phantasiewelt, in der alles möglich ist und selbst die widersprüchlichsten Dinge fraglos Bestand haben. So wie sie die unreife Drogenabhängigkeit ihrer Eltern als gegeben hingenommen und das dadurch Notwendige erledigt hat, so tritt sie auch den sonderbaren Gestalten ihrer Umgebung gegenüber. Sie alle verkörpern klassische Archetypen und sind für Jeliza-Rose eine Möglichkeit, sich mit ihren Urängsten und -sehnsüchten auseinander zu setzen. In diese kindliche Phantasiewelt ohne Grenzen katapultiert „Tideland“ den Zuschauer mit wuchtigen Bildern und einer sehr effektiven Kamera. Es bietet sich kaum eine Gelegenheit, sich aus der Perspektive der kleinen Hauptfigur zu lösen, vielmehr werden wir ihrem Kosmos von Vorstellungen und Gefühlen ebenso ausgeliefert, wie sie selbst es ist.

    Die liebevolle Ausstattung macht es leicht, in diese Welt einzusteigen, auch wenn die Kostümwahl eher aus dem Fundus der konventionellen Hexen- und Irrenmode schöpft. Da ergeben sich wenige wirklich interessante Hingucker, immerhin aber ist das Gängige sauber umgesetzt. Auch die Puppen in einzelnen Körperteilen als gruselig-liebevolle Ansprechpartner einsamer und verängstigter Kinder konnte man schon anderweitig sehen. Ein wahrer Genuss dagegen ist der Werdegang von Jeff Bridges als Leiche, die wie ein selbstverständlicher Mitbewohner das Leben von Jeliza-Rose weiterhin begleitet, auch wenn er mit seinen Ausdünstungen und der immer blauer werdenden Zunge im verbleichenden Gesicht nicht immer angenehm ist. Mit ihm wie auch mit allen anderen Figuren wirkt Jodelle Ferland stets überzeugend in ihrer Mischung aus erwachsener Abgeklärtheit und kindlicher Naivität. Weniger Glück hatte die 9-jährige Darstellerin zuletzt mit „Silent Hill“, der auf heftig umstritten war. Für den für 2007 geplante „Case 39“ ist ihr mehr Glück zu wünschen, denn es steckt einiges drin in dem kleinen Mädchen.

    Anders als die legendäre „Alice im Wunderland“ durchläuft Jeliza-Rose keine eindeutigen Reisestationen, sondern bewegt sich immer zwischen den gleichen bedeutsamen Polen ihrer eigenen Welt. Obwohl die Anzahl von Orten und Personen überschaubar bleibt, verflüchtigt sich der Bezug zu dem Erleben der Hauptfigur mit steigender Filmdauer. Die Skurrilitäten bleiben auf dem immer gleichen Level und erreichen dadurch eine gewisse Beliebigkeit. Zwar wird die Fährte zur (er)lösenden Katastrophe gelegt, jedoch nicht stringent verfolgt, so dass das Ende dann einfach irgendwann kommt. Hätte auch später passieren können – oder auch früher, was dem Film sicherlich gut getan hätte. Vielleicht steckt hinter dem „zuviel von allem“ der Drang des Regisseurs, seinen visuellen Einschlägen in die Filmwelt mit seinen Klassikern wie Brazil und 12 Monkeys noch einen drauf zu setzen. Doch auch für Genies gilt, dass weniger oft mehr ist, insbesondere bei einer Darstellungsweise, die vom Zuschauer doch eine Auseinandersetzung mit dem Gesehenen fordert. Die trägen Sehgewohnheiten mit phantastisch-fremden Welten zu durchbrechen, ist Gilliam hier trotz mancher Mängel in der Stringenz wieder einmal gelungen und wem es zu anstrengend ist, all die Metaphorik zu hinterfragen, der kann einfach ein wunderbar inszeniertes (Schauer)Märchenland erleben.

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