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    Provokant, freizügig & einst sogar für eine FSK 18 gekürzt: Kontroverser Kult-Klassiker feiert Heimkino-Comeback
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Er findet Streaming zwar praktisch, eine echte Sammlung kann es für ihn aber nicht ersetzen: Was im eigenen Regal steht, ist sicher vor Internet-Blackouts, auslaufenden Lizenzverträgen und nachträglichen Schnitten.

    Die Deutschlandpremiere erfolgte geschnitten mit FSK-Freigabe ab 18 Jahren, mittlerweile darf man „Die Verachtung“ uncut Grundschulkindern zeigen. Ob sie die 4K-Premiere der Filmbusiness-Schelte zu schätzen wissen, steht auf einem anderen Blatt...

    Kino-Deutschland im Jahre 1965: Sogleich zwei (!) James-Bond-Filme machen ordentlich Kasse, das kunterbunte Disney-Musical „Mary Poppins“ bringt die Leinwand zum Strahlen – und eine kühne Abrechnung mit dem Kommerzkino wird entschärft: „Die Verachtung“ von Regiepionier Jean-Luc Godard wird um mehrere Minuten gestutzt und erhält trotzdem eine FSK-Freigabe ab 18 Jahren.

    Seither avancierte der Film zum Klassiker, der sich regelmäßig hohe Platzierungen in ewigen Bestenlisten holt. In Deutschland ist er zwar seit einiger Zeit ungeschnitten erhältlich, aber noch nie war er hierzulande derart attraktiv, wie er in wenigen Wochen sein wird: Am 29. Juni 2023 feiert „Die Verachtung“ seine 4K-Premiere!

    Die 4K-Veröffentlichung dieser Mischung aus frecher Hollywood-Abrechnung und ungeschöntem Liebesdrama erfolgt anlässlich des 60-jährigen Jubiläums ihrer Welturaufführung. Der mit betörenden Bildern lockende Klassiker wurde dafür aufwändig neu restauriert. Die Restauration dient auch als Grundlage für eine DVD-Neuauflage* sowie eine Blu-ray-Neuauflage*. Alle Editionen sind übrigens trotz Freigabe ab sechs Jahren uncut – ihr knallhartes Urteil aus den 1960er-Jahren hat die FSK längst revidiert.

    "Die Verachtung": Schwelgende Liebe, harsche Abneigung

    Schriftsteller Paul Javal (Michel Piccoli) bekommt den Auftrag, eine strauchelnde Kino-Neuinterpretation der Odyssee zu retten: Produzent Jeremy Prokosch (Jack Palance) möchte, dass er eine Kurskorrektur unternimmt – zur Not gegen den Willen des verantwortlichen Regisseurs (Fritz Lang als er selbst). Ein erstes Gespräch im römischen Studiokomplex Cinecittà verläuft gut genug, dass Jeremy daraufhin Paul und dessen Ehefrau Camille (Brigitte Bardot) in seine Villa einlädt. Dort zeigt Jeremy mehr Interesse an Camille als am Projekt, was Paul tatenlos mitansieht. Camille glaubt deshalb, ihr Mann würde sie aus Karrieregründen zum Fraß vorwerfen...

    Erst kürzlich bat das prestigeträchtige Magazin Sight & Sound Kritiker*innen aus aller Welt, die besten Filme aller Zeiten zu küren. „Die Verachtung“ landete auf einem stolzen 54. Platz – gleichauf mit dem Sci-Fi-Kultfavoriten „Blade Runner“! Auch in diversen weiteren Bestenlisten lässt sich „Die Verachtung“ finden, etwa in einem BBC-Ranking der besten nicht-englischsprachigen Filme aller Zeiten.

    Dabei macht Godard es seinem Publikum nicht leicht, sich in den Film einzufühlen, weshalb der Auftakt Uneingeweihte irritieren dürfte: Während in der Ferne eine Filmcrew zu sehen ist, die vor trostlosen Gebäuden ihrer Arbeit nachgeht, zählt eine knarzende Stimme aus dem Off die Mitwirkenden auf. All das untermalt von dröhnend-schwerer Musik. Als hätte man versehentlich eine Making-of-Begleitdokumentation, die Audiodeskription des Abspanns und das zu laut abgemischte Soundtrackalbum gleichzeitig gestartet.

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    Dann rückt die Filmcrew immer näher, bis sie letztlich die Kamera in unsere Richtung dreht – und uns somit mitten in eine einzigartige Reflexion über das Kino versetzt, die wiederum durch eine bildschön fotografierte Liebesgeschichte gespiegelt wird. So streift die von Raoul Coutard geführte Kamera schwelgend, fast geistesabwesend, durch die Szenerien, und unterbreitet uns im Laufe des Films mehrere herrliche Italien-Panoramen.

    Das Kuriose daran: Godard sträubte sich, „Die Verachtung“ im CinemaScope-Breitbildverfahren zu drehen, konnte sich aber nicht gegen seinen Produzenten durchsetzen. Also ließ er Lang während seines Gastauftritts im Film über das Format lästern. Gleichwohl nutzt Godard es eindrucksvoll und effektiv: Dadurch, dass die Kamera das zentrale Ehepaar förmlich aus dem Blick verliert, wird uns verdeutlicht, wie sehr das Paar auseinander gleitet. Zugleich drückt die Kameraarbeit aus, wie gegensätzlich die filmischen Visionen sind, die Paul und Jeremy während ihrer Gespräche entwerfen.

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    Auch in der wohl berühmtesten Szene des Films zeigt sich Godard von seiner schelmischen Seite: Der amerikanische Produzent Joseph E. Levine gängelte den Regisseur dazu, eine Nacktszene mit Bardot einzubauen, in der Hoffnung, den Film so besser verkaufen zu können. Godard gab sich geschlagen, erfüllte Levines Wunsch jedoch gezielt unbefriedigend:

    In der Szene liegt Bardot bäuchlings auf einem Bett und quält ihren Filmgatten mit monotonen Fragen, wie attraktiv er denn ihren Körper fände. Der Sequenz geht jegliche Erotik abhanden, außerdem hebt sie sich als ungewollter Fremdkörper bildsprachlich vom Rest des Films ab. Mehr noch: Selbst innerhalb dieser Sequenz, die während eines Reshoots entstand, ist die Farbästhetik uneinheitlich, womit Godard die Aufmerksamkeit des Publikums von der sich darbietenden, durch Paul wenig gewürdigten Camille ablenkt.

    Diese Passage ist sozusagen ein inszenatorischer Mittelfinger an Levine und nimmt zugleich die holpernde Dynamik zwischen den Ehelauten vorweg, um die sich der Stoff dreht. Damit ist sie obendrein ein raffinierter Vorgeschmack auf die weiteren trocken-metafiktionalen Auseinandersetzungen mit dem kommerzialisierten Prozess des Filmemachens.

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    Allerdings ist „Die Verachtung“ keine reine Abrechnung mit der Kinoindustrie, sondern entfaltet sich zugleich zu einem sehnsuchtsvollen Drama über zwei Menschen, die sich verloren fühlen und entzweien. Bardot und Piccoli spielen dies mit einer hypnotisierenden Balance aus eiskalter Distanziertheit und herzzerreißender Eleganz, während die Musik von Georges Delerue tragisch auf die Tränendrüse drückt. Dass Godard parallel zu den Dreharbeiten selbst eine Ehekrise verarbeitete, überrascht da wohl kaum.

    Allem geschilderten Leid zum Trotz ist „Die Verachtung“ zumindest im Detail eine Umkehr dessen, was der Titel androht: Das Drama ist bespickt mit liebevollen Zitaten, Querverweisen und Anspielungen auf andere Filme. Insbesondere Godards Verehrung für „Metropolis“-Regisseur Lang kommt mit ehrlicher Begeisterung zum Vorschein – kein Wunder, schuf er doch ebenfalls Filme, die auf betörende Weise Ärgernisse kommentierten. Einer davon feierte sogar kürzlich seine späte HD-Heimkinopremiere:

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