
In seinem Heimatland Frankreich war die Neuverfilmung des Abenteuerbuchklassikers „Der Graf von Monte Christo“ mit neun Millionen Besuchern einer der größten Blockbusters des letzten Sommers. Die Regisseure Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière erzählen darin die Geschichte eines Seemanns, der Opfer einer Intrige wird und sich nach 15 Jahren Straflager rächen kann – eine, wie es scheint, zeitlose Geschichte, die auch heute noch Zuschauer fesseln kann. Denn obwohl der Stoff bereits unzählige Male für Kino und Fernsehen adaptiert wurde, ist den beiden eine Version gelungen, die klassisches Abenteuer und zeitgemäßes Reboot zugleich ist.
FILMSTARTS-Autor Kamil Moll hatte die Gelegenheit, mit dem Regisseur Matthieu Delaporte in Berlin zu sprechen. Wir wollten wissen, welche Schwierigkeiten es bereitet, ein über tausendseitiges Buch zu verfilmen, wieso Gérard Depardieu der falsche Schauspieler für die Hauptrolle gewesen ist und warum richtige Abenteuerfilme natürliches Sonnenlicht brauchen.

FILMSTARTS: Alexandre Dumas Roman „Der Graf von Monte Christo“ erzählt von Edmond Dantès, einem jungen Seemann, der durch Falschaussagen denunziert wurde, zu einer Strafe auf einer Gefängnisinsel verurteilt wird und dann nach 15 Jahren flieht, um sich zu rächen. Was hat dich und deinen Ko-Regisseur Alexandre de La Patellière daran interessiert, diese Geschichte 2024 zu erzählen? Was erzählt sie uns aus zeitlicher Distanz von fast 180 Jahren heute über das Hier und Jetzt?
Matthieu Delaporte: Dieser Roman ist ein Klassiker, und wenn wir an Klassiker von Shakespeare und Moliere denken, die wir im Theater gucken, haben wir kein Problem damit, sie drei bis vier Mal in unserem Leben zu sehen. Immer wieder. Und dieses Buch ist so reichhaltig, da steckt so viel drin, dass du dir zwei Adaptionen von „Der Graf von Monte Christo“ anschauen kannst und die sind grundverschieden. Daher ist es großen Büchern oder Romanen vorbehalten, dass man sie immer wieder neu interpretieren, neu adaptieren kann, weil jeder auch seine eigene Vision hat. Uns war es wichtig, eine Version zu zeigen, von der wir meinen, dass es sie so bisher noch nicht gegeben hat. Die Lust nach Rache ist einfach zeitlos.

FILMSTARTS: Der Roman umfasst über 1000 Seiten und ist auch mehrmals als mehrteilige Serie verfilmt worden. Wie habt ihr es geschafft, den Stoff zu verdichten für einen dreistündigen Film?
Matthieu Delaporte: In Frankreich ist die Taschenbuchausgabe sogar 1500 Seiten dick, und das würde in Drehbuchseiten übersetzt 3000 Seiten ergeben. Wir hatten die Möglichkeit, einen dreistündigen Film zu machen, das entspricht wiederum 180 Drehbuchseiten. Da war es ganz klar: Man musste sich einen Weg durch den Wald bahnen und nur diesen einen Weg verfolgen.
Und wir haben uns für eine Erzählachse entschieden, die von Edmond Dantès. Alles, was wir sehen, sollte aus seinem Blickwinkel zu sehen sein. Wir sehen alles durch ihn: Wir sehen seinen Fall. Wir sehen, wie er wieder aufsteht. Wir sehen, wie er diese Lust nach Rache bekommt. Und wir sind auch ebenso ab einem gewissen Punkt angewidert von seiner Rache. Edmond Dantès ist eben jemand, der nie verschwindet. Er ist nur hinter der Maske von Monte Christo, dahinter bleibt er Dantès.

FILMSTARTS: Im Buch erhält Edmond den verhängnisvollen Napoleon-Brief vom sterbenden Kapitän des Schiffes, an dessen Bord er angeheuert hat. Dieser bringt ihn letztlich ins Gefängnis. Ihr habt stattdessen eine zusätzliche Figur für die filmische Bearbeitung erfunden: Angèle, die Schwester des Staatsanwalts Gérard de Villefort, der Edmond verurteilt. Sie übergibt ihm den Brief. Was hat euch daran interessiert, die Geschichte auf diese Weise zu erzählen? Warum wird Angèle eine so zentrale Figur eurer Geschichte?
Matthieu Delaporte: Im Buch war diese ganze Geschichte mit dem Kapitän eigentlich zu kompliziert. Alexandre Dumas kommt damit als Schriftsteller durch, weil er unwahrscheinlich gut erzählen kann. Aber diese Sache mit dem sterbenden Kapitän hat auch etwas sehr Absurdes, denn Dantès begibt sich ja im Buch auf die Insel Elba zu Napoleon – zur Zeit der Konterrevolution, da weiß er eigentlich, dass er etwas Verbotenes tut.
Das ist so absurd, als würde ein Fischer während des Zweiten Weltkriegs nach England fahren: von De Gaulle eine geheime Nachricht kriegen, nach Frankreich kommen und sich wundern, dass die Gestapo ihn verhört. Das ergibt einfach keinen Sinn! Deswegen waren wir der Meinung, entweder müsste er wissen, was er getan hat, und dann müsste er auch wissen, dass er sich schuldig gemacht hat. Oder er ist wirklich vollkommen unschuldig und weiß nicht einmal, was in diesem Brief steht. So haben wir uns eben für diese Figur von Angèle entschieden, die ja eine Zusammenfügung verschiedener Figuren aus dem Buch ist. Dadurch entwickelt sich dann alles weniger durch Zufälle.
FILMSTARTS: In bisherigen Verfilmungen wurde Edmond bislang meistens von Schauspielern wie Gérard Depardieu oder Richard Chamberlain gespielt, die zu dem Zeitpunkt älter als 40 Jahre alt waren. Pierre Niney hingegen ist ein eher jüngerer Schauspieler und hat vor allem auch eine jüngere Ausstrahlung. Wie ist es dazu gekommen, dass ihr ihn gecastet habt?
Matthieu Delaporte: Das Buch besteht ja aus zwei Teilen. Am Anfang ist er 20, im zweiten Teil ist er 40 Jahre alt. Wir wollten nicht, dass das zwei Schauspieler spielen, wie das ja in einigen Adaptationen gemacht worden ist, sondern es sollte wirklich der gleiche Schauspieler bleiben. Das Interessante ist ja, wenn er 20 ist, wird ihm sein Leben genommen, und dann kommt er mit 40 wieder zurück und will sich rächen. Er trifft jetzt aber auf die Kinder seiner Feinde, die genau das Alter haben, das er hatte, als man ihm letztendlich sein Leben geraubt hat. Das war für uns interessant, dass es da plötzlich diese Dualität in der Geschichte gibt.
Es ist oft versucht worden, mit älteren Schauspielern zu arbeiten, die man dann auf jünger geschminkt hat, aber für uns funktionierte das nicht. Bei Gérard Depardieu war ja z.B. das Problem, dass der jüngere Dantès von seinem Sohn, Guillaume Depardieu, gespielt wurde. Der kommt dann nach 20 Jahren aus dem Gefängnis, ist fast verhungert, aber der ältere Schauspieler wiegt plötzlich 125 Kilo! Pierre Niney ist um die 30 und liegt eigentlich genau zwischen den beiden Altersgruppen. Dadurch kann er sowohl einen 20-Jährigen als auch einen 40-Jährigen spielen. Wir haben auch mit seiner Veränderung gespielt. Im Gefängnis ist er ja sehr mager. Später nimmt er dann an Muskeln zu. Das ist heutzutage durch technische Hilfsmittel ein bisschen leichter zu machen.

FILMSTARTS: Mir gefällt an dem Film insbesondere, dass er ganz von seinen Schauspielern und den Drehorten lebt und sich nicht auf digitale Technik verlässt. Er ist im besten Sinne ein klassischer Abenteuerfilm – man versinkt wie beim Lesen in den visuellen Details und den Schauplätzen. Wenn der Film auf dem Meer spielt, hat man als Zuschauer auch wirklich den Eindruck, auf dem Wasser zu sein und nicht in einem Filmstudio. War euch ein realistischer, natürlicher Look wichtig?
Matthieu Delaporte: Uns beiden war es sehr wichtig, dass man wieder an Technicolor denkt, dass die Farbe wieder als Farbe erkennbar wird. Die amerikanischen Blockbuster von heute sind alle sehr dunkel geworden, ein Marvel-Film sieht viel düsterer aus als ähnliche Filme vor 20 Jahren – die digitalen Effekte sollen mit so einer Lichtgebung besser versteckt werden. Bei „Der Graf von Monte Christo“ sollte man hingegen natürliche Schauplätze und direktes Sonnenlicht auf der Leinwand wiederfinden. Das ist zwar auch eine düstere Geschichte, aber sie spielt an der Sonne, man sieht das Licht, das im Süden Frankreichs leuchtet.
FILMSTARTS: Gab es denn konkrete Filme, die ihr vor Augen hatten, als ihr euch an den Stoff gemacht habt? Gab es direkte ästhetische Einflüsse?
Matthieu Delaporte: Es gibt bewusste und unbewusste Einflüsse. Das weiß man manchmal nicht so genau. Uns ist bei der Arbeit klar geworden, dass wir sehr von Brian De Palma beeinflusst waren. Obwohl er in dem Film ja nie direkt zitiert wird. Unserem Kameramann haben wir zwei Filme an die Hand gegeben: Zum einen Luchino Viscontis „Der Leopard“, weil es uns da um den Look des Technicolors ging. Und Coppolas „Der Pate“, der auch ein Film mit sehr viel Licht ist, aber im Kontrast dazu mit sehr düsteren Innenräumen. Diese Farben sollten gut herauskommen, denn ansonsten ist es ja kein Kostümfilm im klassischen Sinne, er hat auch moderne Elemente: Die Kleidungsstoffe sind sehr moderne, durchlässige Stoffe, in denen sich die Schauspieler gut bewegen konnten. Nur der Schnitt der Kleider wirkt wie aus der Zeit.
