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    Die neue Kontroverse um "Joker": Das steckt dahinter

    „Joker“ sorgt schon vor dem Kinostart für reichlich Aufsehen. Ein offener Brief von Nachkommen der Opfer des Amoklaufs von Aurora 2012 hat nun eine neue Debatte angestoßen. Wir erklären, was dahintersteckt, und geben eine Meinung dazu ab.

    Warner Bros.

    Am 20. Juli 2012 kam es in Aurora, Colorado, zu einem Amoklauf. Ein Mann stürmte zur mitternächtlichen Premiere des Films „The Dark Knight Rises“ das lokale Kino, erschoss zwölf Menschen, verletzte 58 weitere zum Teil schwer. Dass der Täter sich angeblich selbst „Joker“ (nach dem Batman-Bösewicht) nannte, konnte nie final bestätigt werden. Ein Indiz, das dafür weiter herangezogen wird: Er hatte bei seinem ersten Gerichtsauftritt an die Comic-Figur erinnernde rot-orange gefärbte Haare.

    Am 10. Oktober 2019 kommt „Joker“ in die deutschen Kinos. Joaquin Phoenix spielt in dem Film von Todd Phillips einen von der Gesellschaft abgehängten Einzelgänger, der Rückschlag um Rückschlag einsteckt und irgendwann durchdreht.

    Familienmitglieder und Freunde der Opfer von Aurora haben nun mit einem offenen Brief an Warner-Chefin Ann Sarnoff eine neue Debatte über „Joker“ ausgelöst. Um diese zu verstehen, ist es wichtig, sich mit dem Inhalt des Briefes auseinanderzusetzen und nachzuvollziehen, was die Schreiber wollen und auch, was sie nicht (!) wollen.

    Der offene Brief

    Der Brief an Warner-Chefin Ann Sarnoff wurde in Hollywoods Branchenmagazinen (komplett unter anderem bei Variety) abgedruckt. Darin formulieren die Unterzeichner eine Reihe von Wünschen.

    Sie wollen kein Verbot des Films: Ganz wichtig und um die typischen Anti-Reaktionen gleich einmal im Keim zu ersticken. Sie fordern nicht (!), dass der Film nicht gezeigt wird. Sie unterstützen ausdrücklich das sogenannte Recht auf Free Speech & Free Expression und damit Warners Recht, einen solchen Film in die Kinos zu bringen (was übrigens auch das Recht eines jeden Kinos beinhaltet, einen Film nicht zu zeigen: Das damals betroffene Kino in Aurora zeigt „Joker“ nicht!).

    In einer ergänzenden Stellungnahme stellen die Unterzeichner zudem klar, dass es auch ihrer Meinung nach „keinen (!!!) Zusammenhang zwischen Gewalt in Filmen und Gewalt in der realen Welt“ gibt. Der Film ist also selbst ihrer Meinung nach kein Problem. Eine Unterzeichnerin äußerte in einem Interview aber die Befürchtung, dass es nur einen einzigen schon psychisch gestörten Menschen da draußen geben könnte, der nun angestachelt wird, seine Gewaltfantasien in die Tat umzusetzen.

    Sie wollen Aufmerksamkeit für das Problem „Waffengewalt“: Sie haben es sich nach eigener Aussage selbst zur Aufgabe gemacht, dass möglichst niemand erfahren muss, was sie erfahren mussten, nämlich einen geliebten Menschen durch einen solchen Amoklauf zu verlieren. So schmerzhaft der Film für sie persönlich ist, hoffen sie daher in erster Linie, dass Aufmerksamkeit auf das Problem der nach wie vor regelmäßigen Amokläufe in den USA gelenkt wird.

    Warner soll seine Macht nutzen: Ihre Hauptforderung ist aber, dass Warner wie schon andere US-Firmen davor bitte seine Macht nutzen soll, um sich für strengere Waffengesetze in den USA einzusetzen. Das Unternehmen soll zum Beispiel auch kein Geld mehr an Politiker spenden, die auch von der NRA (der US-Waffenlobby) unterstützt werden und solche strengeren Gesetze verhindern.

    Warners Reaktion

    In einer Stellungnahme (via Deadline) hat Warner auf den offenen Brief reagiert.

    Warner engagiert sich: Die Firma verweist darauf, dass man schon eine lange Geschichte von Spenden an Opfer von Gewaltverbrechern habe, auch nach der Tat von Aurora. Warners Mutterfirma (das Telekommunikationsunternehmen AT&T) beteilige sich bereits an einer Initiative verschiedener US-Firmen, bei den Gesetzesmachern vorstellig zu werden, um das Problem der Waffengewalt anzugehen.

    Filme müssen provozieren: Man stelle aber klar, dass es nach eigener Auffassung die Funktion von Geschichtenerzählern sei, auch „schwierige Unterhaltungen über komplexe Probleme zu provozieren“. Man stelle klar, dass weder der Film „Joker“ noch die Figur Joker eine Billigung realer Gewalt seien.

    Das sagen die Macher

    Besonders müssen sich aber die Macher selbst schon seit der Weltpremiere des Films bei den Filmfestspielen von Venedig damit auseinandersetzen, dass ihr Film mögliche Nachahmer beeinflussen könnte – wobei dies zumindest Joaquin Phoenix anfangs scheinbar gar nicht tat.

    Joaquin Phoenix verlässt Interview: Mittlerweile fast schon legendär ist die Geschichte der britischen Zeitung The Telegraph, die vor wenigen Tagen erschien. Der Reporter fragte Phoenix, ob er sich nicht Sorgen mache, dass – wie es im Film passiert – sich Leute die Taten seiner Figur Arthur Fleck zum Vorbild nehmen und selbst gewalttätig werden. Phoenix brach an der Stelle das Interview ab, besprach sich für 60 (!) Minuten mit den PR-Leuten von Warner, bevor er das Gespräch fortsetzte. Dabei gestand er dann ein, dass er bei der Frage „in Panik geraten“ sei. Die Frage selbst habe er sich bislang nicht gestellt.

    Für Phoenix hat der Filmemacher keine Verantwortung: Mittlerweile hat der Superstar eine konkretere Antwort. Die meisten Zuschauer könnten zwischen richtig und falsch unterscheiden und es sei nicht die Verantwortung des Filmemachers, dem Publikum beizubringen, was moralisch richtig und was der Unterschied zwischen richtig und falsch ist, so Phoenix gegenüber IGN.

    Phillips findet die Debatte falsch – gerade im Vergleich zu „John Wick 3“: Regisseur Todd Phillips versteht derweil Kritik in dieser Hinsicht an seinem Film nicht. Der Associated Press erklärte er, dass sein Film in einer „fiktionalen Welt“ spiele und gerade auch der Aurora-Amoklauf nichts damit zu tun habe (dass der Täter sich auf den Joker bezog, sei seiner Meinung nach falsch berichtet worden).

    Stattdessen will er lieber über vereinzelt geäußerte Kritik an dem „toxic white male“ (Zitat: Phillips) in seinem Film reden. Er verstehe nicht, warum „Joker“ kritisiert werde, während kürzlich bei „John Wick 3“ die weiße, männliche Titelfigur „300 Menschen umbrachte und darüber gelacht und dafür applaudiert“ wurde. Es mache seiner Ansicht nach keinen Sinn, dass diese beiden Filme mit verschiedenen Standards betrachtet werden.

    +++ MEINUNG +++

    Ich möchte in diesem Fall die Berichterstattung nicht ohne eine persönliche Einschätzung beenden. Dazu vorneweg: Ich habe „Joker“ bereits gesehen. Ich finde den Film fürchterlich, was aber rein gar nichts mit einer möglichen Debatte über Kino-Gewalt und mögliche Nachahmer zu tun hat. Ich finde den Film nur einfach katastrophal schlecht erzählt, ein ungemein plattes Malen-nach-Zahlen-wir-bauen-uns-einen-Psychopathen.

    Eine Debatte ist gut: Erst einmal finde ich es gut, dass es diese Debatte ganz allgemein und unabhängig von dem Film gibt, wenn sie so angestoßen wird, wie hier mit dem offenen Brief. Denn den Unterzeichnern geht es nicht darum, einen Film zu verbieten oder zu stigmatisieren. Es geht darum, ob es Möglichkeiten gibt, wie auch Filmemacher und Filmfirmen ihren Teil dazu beitragen können, dass es vielleicht in Zukunft weniger Waffengewalt und Amokläufe gibt – zum Beispiel durch eine öffentlichkeitswirksame Positionierung.

    Bitte bleibt sachlich: Eine solche Debatte muss sachlich geführt. Es ist absolut nicht zielführend, dass in den Sozialen Medien gleich bei einigen wieder der Beißreflex losgeht: Die wollen uns den Film verbieten! Das ist ersichtlich nicht der Fall. Es finden sich natürlich auch in den Sozialen Medien Kommentare, die ein Verbot des Films fordern, doch auch das sind Einzelmeinungen (sucht man lange genug, findet man jede Meinung), die man nicht überhöhen darf.

    Es hat wenig Sinn, wenn (und das hat in der Diskussionskultur leider mittlerweile zugenommen) die radikalsten Meinungen beider Ränder miteinander verglichen werden, obwohl diese gar nicht die Diskussionsgrundlage sind, weil sie nur von einer absoluten Minderheit vertreten werden.

    Das Bewusstsein der Macher: Teilweise Schwierigkeiten habe ich aber mit dem mangelnden Problembewusstsein der Macher – wobei ich ihnen glaube, dass sie sich keine großen Gedanken über eine mögliche Wirkung gemacht haben, sondern einfach nur ihren Film im Kopf hatten. Gerade angesichts der Debatte finde ich den Vergleich von Phillips mit „John Wick 3“ aber völlig verfehlt.

    Lassen wir mal beiseite, dass der Actioner mit Keanu Reeves mit seiner Killer-Parallelwelt völlig entrückt ist, während Phillips versucht, seinen „Joker“ weg von den Comic-Wurzeln so nah wie möglich an unsere Welt zu bringen: In „Joker“ geht es doch gerade darum, dass Fleck Nachahmer inspiriert und die Sorge einiger (angeblich sogar des US-Militärs) ist es, dass das in die Realität übertragen werden könnte (wobei ich hier auch wiederholen will, dass an möglichen Nachahmer-Taten in erster Linie der Täter und niemals ein Film die Schuld tragen wird).

    Abschließend noch eine Bitte: Bleibt in der Diskussion sachlich. Diskutiert hier nur mit, wenn ihr diesen Text auch gelesen habt und versteht, worum es in der Debatte geht, in der eine Unterdrückung von Kunst oder so nämlich absolut keine Rolle spielt.

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