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    Midsommar
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Midsommar

    Ari Aster schreibt schon wieder Horror-Geschichte!

    Von Christoph Petersen

    Wenn man in 50 oder 100 Jahren auf die Geschichte des Horrorkinos zurückschaut, dann wird die Links-Rechts-Kombination aus „Hereditary – Das Vermächtnis“ (von uns gab es die vollen 5 Sterne plus das Siegel „Bestinszenierter Horrorfilm seit Stanley Kubricks ‚Shining‘“) und „Midsommar“ in der Retrospektive sicherlich eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Schließlich ist kaum ein Regisseur gleich mit seinen ersten zwei Langfilmen derart radikal und eindrucksvoll eingestiegen wie der gerade einmal 33 Jahre alte New Yorker Ari Aster. Auf die Schnelle fällt einem da eigentlich nur Quentin Tarantino ein, der seine professionelle Regiekarriere mit „Reservoir Dogs“ und „Pulp Fiction“ begann.

    Aber im Gegensatz zu Tarantino, der ja berühmterweise überhaupt nur zehn Kinofilme drehen will, hat Aster in Interviews verraten, dass er bereits zehn weitere fertiggeschriebene Drehbücher in der Schublade liegen habe. Man muss sich bei ihm also offenbar keine Sorgen um Nachschub machen. Wobei von den Filmen neben „Midsommar“ erst einmal keiner mehr im Horrorfach angesiedelt ist. Genrefans sollten also besser jede Sekunde von diesem auf die abgefucktest mögliche Weise wunderschönen, eigenwillig-verstörenden, die Regeln des Horrorkinos konsequent unterwandernden, irgendwo zwischen IKEA-Katalog und Satanisten-Orgie angesiedelten Psycho-Trip genießen.

    Wer würde sich in der Mitte dieser IKEA-Models nicht sofort wie zuhause fühlen?

    Eigentlich will Anthropologie-Doktorand Christian (Jack Reynor) die Beziehung zu seiner Freundin Dani (Florence Pugh) schon seit Längerem beenden. Aber als sie mit einem schrecklichen Unglück in ihrer Familie konfrontiert wird, lädt er sie stattdessen ein, mit ihm und seinen Kumpels Pelle (Vilhelm Blomgren), Josh (William Jackson Harper) und Mark (Will Poulter) den Sommer in Schweden zu verbringen. Dort feiert Pelles Dorfgemeinschaft ein neuntägiges, in dieser Form nur alle 90 Jahre stattfindendes religiöses Fest, bei dem Christian zugleich auch ein passendes Thema für seine Dissertation zu finden hofft. Aber die Mitsommer-Feierlichkeiten, für das sich die Einheimischen mit Blumen schmücken und in weiße Kleider hüllen, entwickelt sich schon am ersten Tag zu einem zunehmend verstörenden Trip – und das liegt längst nicht nur an den Magic Mushrooms, die sich das Quintett gleich nach der Ankunft in Schweden einschmeißt ...

    Ari Aster selbst sind die Parallelen zwischen den beiden Filmen angeblich erst am Set von „Midsommar“ aufgefallen. Dabei liegt die Nähe zu „Hereditary“ zumindest für den Kinozuschauer auf der Hand. Nicht nur geht es erneut um einen ziemlich merkwürdigen heidnischen Kult, der Filmemacher setzt auch diesmal wieder auf eine familiäre Katastrophe als Katalysator für das Grauen, das sich anschließend Bahn bricht. Prinzipiell hätte wohl auch ein simpler Trauerfall als Motivation für Danis Schwedenflucht ausgereicht. Aber damit begnügt sich Aster nicht, stattdessen lässt er seine Protagonistin und mit ihr den Zuschauer schon in den ersten Minuten durch die Hölle gehen. Die unheilverkündende Inszenierung des familiären Schreckens ist dabei fast schon pervers effektiv. Ein grandioser Einstieg, selbst wenn das Unglück aufgrund seiner sehr viel früheren Positionierung im Film nicht ganz so ultrabrutal in die Magengrube trifft wie noch der Autounfall in „Hereditary“ (den puren Terror und den unfassbaren Schmerz in den Augen von Alex Wolff werde ich in meinem Leben nicht vergessen).

    Die nächste oscarwürdige Performance

    Zudem steht nach der atemberaubenden, bei den Oscars sträflich übergangenen „Hereditary“-Leistung von Toni Collette auch in „Midsommar“ wieder eine absolute Tour-de-Force-Performance im Zentrum: Shooting-Star Florence Pugh heult nicht nur besser als jede andere Darstellerin, sie entwickelt auch ihr mitreißend-ambivalentes Spiel aus „Lady Macbeth“ konsequent weiter – in ihrer introvertierten Schüchternheit schlummert immer auch die Möglichkeit zur urplötzlichen zerstörerischen Explosion. Neben den Parallelen, die man ihm guten Gewissens schon jetzt als klar erkennbare und zugleich unverkennbare Handschrift auslegen darf, erobert Aster aber auch neuen Grund – und zwar nicht nur für sich, sondern gleich für das Genre als Ganzes: Mit der schwedischen Mitsommerwende geht schließlich auch einher, dass es selbst in der Nacht kaum noch dunkel wird. Und so ist „Midsommar“ einer der ganz wenigen Horrorfilme, die praktisch ausschließlich im (sehr, sehr) Hellen spielen.

    Nahezu jede Einstellung des Films (zumindest die, in denen alle angezogen und keine zermatschten Schädel zu sehen sind) ließe sich ohne großartige Änderung auch als Cover-Motiv für einen IKEA-Katalog verwenden. Aster verlässt sich in „Midsommar“ trotz zwei, drei funktionaler Jump Scares nämlich so gut wie gar nicht auf die erprobten Mechanismen des Horrorgenres, sondern entwickelt stattdessen seine ganz eigene Sprache und Methodik, um den Verstörungsgrad und damit auch die Daumenschrauben des Zuschauers im hellsten Tageslicht konsequent immer weiter anzuziehen. Wenn Aster aus einer Top-Down-Perspektive zeigt, wie alle an der Tafel versammelten Menschen nach und nach ihre Besteck in die Hand nehmen, was von oben wie eine Art La-Ola-Welle anmutet, dann würde dieses Spiel mit der Symmetrie in einem anderen Zusammenhang ebenso gut in eine Komödie von Wes Anderson hineinpassen. Aber in „Midsommar“ entwickeln selbst die kleinsten von der Norm abweichenden Details sehr schnell eine sehr ungemütliche Qualität – und das liegt vor allem an Asters erneut virtuos durchkomponierter, immer wieder kleine Verschiebungen und Widerhaken einschmuggelnden, viel mit Unschärfen und ungewöhnlichen Einstellungsgrößen arbeitenden Inszenierung.

    Niemand heult so überzeugend wie Florence Pugh!

    Sich „Midsommar“ anzuschauen, ist also nicht nur eine extreme, sondern auch eine ganz und gar nicht angenehme Erfahrung. Der Film ist eben kein Geisterbahn-Horror, bei dem man sich kurz erschrickt – und sich dann lachend darüber freut, zusammengezuckt zu sein. Stattdessen erschüttert der Film sein Publikum – wie schon „Hereditary“ – auch emotional bis ins Mark. Da sorgt selbst der wunderbar trockene Humor (vor allem von Szenendieb Will Poulter, dessen Mark ja sowieso lieber in einen „Köttbullar-Puff“ gefahren wäre) nur für sehr kurzzeitige Erleichterung. Dasselbe gilt für die plötzlichen Gore-Einlagen, die den Gewaltexzessen aus den Filmen von S. Craig Zahler („Brawl In Cell Block 99“) sicherlich nicht unähnlich sind. In ihrer übersteigerten Ästhetik kann man über die zerschmetterten Schädel gerade beim ersten Ritual (das mich übrigens sehr stark an eine legendäre Schwiegermutter-Folge aus der Puppen-Sitcom „Die Dinos“ erinnert hat) durchaus kurz amüsiert kichern – aber dann legt Aster noch einen drauf und dieses Lachen bleibt einem doch sofort wieder im Halse stecken.

    Am Ende reicht es dann diesmal doch „nur“ zu 4,5 Sternen, weil einfach dieser eine Moment fehlt, der einem den Boden so sehr unter den Füßen wegreißt, dass man auch Tage später noch damit beschäftigt ist, den Schrecken zu verarbeiten (wie eben bei der Autoszene in „Hereditary“). Aber es wird sicherlich auch viele Zuschauer geben, die die beiden Filme genau andersherum einordnen – und zwar vor allem die, die mit der Zweiteilung von „Hereditary“ (erst Familiendrama mit Gruseluntertönen, dann volle Kanne übersinnlicher Dämonenhorror) so ihre Probleme hatten. „Midsommar“ ist nämlich von der ersten bis zur letzten Sekunde absolut wie aus einem Guss und steuert deshalb auch unaufhaltsam auf eine verstörende Höllenfahrt zu – wer sich wie wir schon nach 20 Minuten verdammt unwohl fühlt, dem wünschen wir auch für die weiteren zwei Stunden beste Unterhaltung ;-)

    Fazit: Ari Aster macht mit „Midsommar“ genau da weiter, wo er mit „Hereditary“ aufgehört hat – und etabliert sich damit schon nach zwei Filmen als der wohl aktuell aufregendste (Genre-)Regisseure seiner Generation. Wir drücken jedenfalls alle Daumen, dass er nun auch noch den Rest seiner offenbar randvoll gefüllten Schublade verfilmt bekommt.

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