Girls on Wire
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,0
stark
Girls on Wire

Wenn Träume am Leben scheitern

Von Björn Becher

In der modernen chinesischen Gesellschaft existieren noch immer große Spannungen zwischen traditionellen Erwartungen und individueller Selbstverwirklichung. Gerade junge Menschen verspüren das Bedürfnis, ihre eigenen Träume zu verwirklichen, stehen aber gefühlt zugleich in der Schuld ihrer Eltern. Die sogenannte Filialpietät ist ein Grundpfeiler der chinesischen Ethik. Er verlangt Kindern nicht nur Respekt, Gehorsam und emotionale wie finanzielle Unterstützung gegenüber ihren Eltern ab. Diese Verantwortung erstreckt sich oft auch auf weitere Familienmitglieder und wird vor allem von Frauen besonders stark gefühlt und eingehalten.

In ihrem neuen Film nimmt Regisseurin und Drehbuchautorin Vivian Qu („Angels Wear White“) diese Spannungen zum Ausgang für eine fesselnde Geschichte über zwei gegensätzliche Cousinen, die das Schicksal nach fünf Jahren Trennung wieder zusammenbringt. In „Girls On Wire“, der im chinesischen Original den ungleich poetischeren Titel „Die Mädchen, die fliegen wollen“ trägt, erzählt auf zwei Zeitebenen und auch mit den Mitteln des (Gangster-)Genrekinos ein emotionales Melodrama, das zwar nicht immer rund ist, aber dennoch berührt und erschüttert.

Können die Cousinen Tian Tian (Liu Haocun) und Fang Di (Wen Qi) der Schuld und den Schulden ihrer Familie entfliehen? L'Avventura Films
Können die Cousinen Tian Tian (Liu Haocun) und Fang Di (Wen Qi) der Schuld und den Schulden ihrer Familie entfliehen?

Nachdem Tian Tian (Liu Haocun) aus der Gefangenschaft brutaler Gangster entkommen ist, die ihr zwangsweise Drogen gespritzt haben, schlägt sie sich bis in die Filmstadt Xiangshan durch. An dem Ort, wo die großen Historienfilme des chinesischen Kinos entstehen, sucht sie ihre Cousine, die sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. Fang Di (Wen Qi) hat die Heimat verlassen, um als Schauspielerin ein neues Leben zu beginnen.

Aktuell arbeitet Fang Di jedoch nicht als Schauspielerin, sondern als Stuntfrau. Sie ist wenig begeistert von Tian Tians Ankunft, auch wenn diese einst wie eine kleine Schwester für sie war. Denn sie vermutet, dass die Cousine nur noch mehr Geld von ihr will. Dabei schickt sie doch ohnehin schon mehr als sie sich leisten kann in die Heimat und steht längst selbst bei einer Kreditgeberin tief in der Schuld. Während es fraglich scheint, ob die beiden jungen Frauen ihre einstige Bindung wiederfinden, schlägt auch schon ein Gangster-Trio auf der Suche nach Tian Tian in der Filmstadt auf...

Die Vergangenheit als Last

Vivian Qu schildert ihre Geschichte auf zwei zeitlichen Ebenen. Während wir in der auf wenige Tage komprimierten Gegenwartshandlung sehen, ob die Frauen sich aus ihrer Misere befreien können, lernen wir beide in ausführlichen Rückblenden näher kennen. Immer wieder führt uns Qu an bestimmte Momente in der Beziehung von Tian Tian und Fang Di als kleine Mädchen, Teenagerinnen und junge Erwachsene. In Chongqing lernen wir zudem ihre große Familie kennen, die, wie so viele in der chinesischen Mega-Stadt davon träumt, mit dem Textilgeschäft reich zu werden.

Doch es ist eine Abwärtsspirale, der wir beiwohnen. Tian Tians Vater (Zhou You) ist drogensüchtig, bekommt von seiner Schwester (Peng Jing) trotzdem immer noch irgendwie Geld, obwohl die kaum die Arbeitskräfte in der Textilfabrik bezahlen kann und auch ihre sonstigen Geschäftsentscheidungen nicht die besten sind. Zu den Schulden kommt auch noch eine Schuld, die auf sich geladen wurde – eine Mordtat, die der Bruder einst für die Schwester begangen hat und die es ihr unmöglich macht, ihn trotz seiner ständigen Lügen und seines zerstörerischen Einflusses vor allem auch auf seine eigene Tochter zu verstoßen.

Kaum ein Entkommen

Diese Rückblenden sind in einem einengenden 4:3-Bildformat gefilmt. Wir blicken auf etwas Vergangenes, nicht mehr Änderbares – und stellen uns so zugleich die Frage, ob die Cousinen zumindest in der Gegenwart ihr Leben ändern können und die Chance auf einen Neuanfang bekommen. Früh dämmert einem, dass dies längst nicht sicher ist. Die Verantwortung für die Familie wiegt zu schwer, das Freistrampeln für ein eigenes Leben scheint fast unmöglich. All das liefert den nötigen Unterbau für die emotionale Wirkkraft von Entscheidungen, die später im Film getroffen werden – vor allem in einer Rückblende, in welcher sich Tian Tian von ihrem Vater (allerdings zu einem hohen Preis) löst.

Den fast schon nostalgisch wirkenden 4:3-Bildern der Vergangenheit setzt Vivian Qu bisweilen fast schon opulent wirkendes Kino entgegen. Die Filmstadt Xiangshan erlaubt ihr als Schauplatz auch Ausflüge ins Genrekino. Da fliegt Fang Di beim Dreh eines Wuxia-Films durch die Lüfte und beweist ihre Schwerkampfkünste. Gemeinsam mit dem erfahrenen Choreografen Liu Mingzhe („The Assassin“, „Red Cliff“) schafft die Regisseurin hier gute Actionszenen, zeigt aber gleichzeitig, wie diese gemacht werden. „Girls On Wire“ ist hier Verbeugung und Entzauberung der Filmkunst zugleich – mit einem durchaus kritischen Blick.

Zwischen Traumfabrik und harter Realität

Die hier einnehmend agierende Liu Haocun stand zuletzt als Hauptdarstellerin neben Jackie Chan in „Ride On – Die zweite Chance“ vor der Kamera – einem Film, der bei aller nostalgischen Begeisterung auch die harte Realität des Stuntgeschäfts beleuchtete. Hier kommt dieser Part nun der ebenfalls stark aufspielenden Wen Qi („The Bold, The Corrupt And The Beautiful“) zu.

Der Dreh einer Szene, in der Fang Di trotz ihrer Periode immer wieder im eiskalten Wasser eines nächtlichen Flusses versenkt wird, demaskiert die grausame Seite eines solchen Drehs. Immer wieder muss die zunehmend kraftlose Stuntfrau die Sequenz wiederholen, weil der Regisseur noch etwas zu mäkeln hat. Und obwohl sie körperlich eigentlich nicht mehr dazu in der Lage ist, macht sie weiter – Schuld und Schulden treiben sie an, womit wir wieder bei einem zentralen Thema des Films sind.

Ein unerwarteter Moment des Humors

Während dieser Teil schmerzhaft anzuschauen ist, lässt Vivian Qu an anderer Stelle plötzlich Humor zu. Weil den trotz ihres brutalen Agierens etwas tollpatschig gezeichneten Gangstern eine Verwechslung unterläuft, suchen sie am falschen Set nach den Frauen und landen so plötzlich als Statisten mitten in einem Kriegsfilm – und ruinieren dort mehrere Aufnahmen. Diese Passage ist zwar ein plötzlicher Bruch im Film, aber ein willkommener Moment zum befreiten Auflachen in einer immer wieder ganz schön hoffnungslos erscheinenden Geschichte.

Er illustriert zudem die Stärken und Schwächen von „Girls On Wire“ sehr gut. Einiges ist hier unrund, nicht alle Einzelstücke passen immer richtig zusammen. Da gibt es Momente, die ein wenig ins Leere laufen, während andere zu sehr das Offensichtliche ausbuchstabieren oder Klischees bemühen. Doch jede Szene hat ihre Wirkung, ist wie hier lustig oder oft ergreifend. Man fiebert mit Tian Tian und Fang Di mit und hofft, dass sie irgendwie einen Ausweg finden, doch noch ein eigenes, unabhängiges Leben führen können. Allerdings ahnt man schon, dass das in etwa so wahrscheinlich ist wie der titelgebende Traum vom Fliegen.

Fazit: „Girls On Wire“ ist ein ambitioniertes Melodrama, das auf beeindruckende Weise persönliche und gesellschaftliche Konflikte in China einfängt. Auch wenn nicht alle erzählerischen Elemente perfekt ineinandergreifen, entfaltet der Film eine große emotionale Wirkung – getragen vor allem von zwei starken Hauptdarstellerinnen.

Wie haben „Girls On Wire“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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