Der Kuss des Grashüpfers
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
Der Kuss des Grashüpfers

Schafe sind die besseren Mitbewohner

Von Lutz Granert

Nur wenig Sonnenlicht bricht durchs einzige Fenster der neuen Penthouse-Wohnung, die sich Bernard (Lenn Kudrjawizki) mit schwarzen Möbeln eingerichtet hat. Die Räume ertrinken regelrecht in der Dunkelheit. Umso organischer fügt sich in der Ecke des Wohnzimmers ein imaginiertes, pulsierendes schwarzes Loch ins Interieur ein, das regelrecht danach giert, den neuen, innerlich versteinerten Mieter in seinen düstersten Stunden zu verschlingen. Wenn Bernard abends der Verlockung dieses Schlunds erliegt, kehrt erst am nächsten Morgen wieder Normalität ein, wenn er sich die öligen Rückstände seines Trips ins eigene Unterbewusstsein sorgsam und routiniert schrubbend abduscht.

Das Beziehungsdrama „Der Kuss des Grashüpfers“ von Regisseur und Drehbuchautor Elmar Imanov enthält viele solcher surrealen, zuweilen rätselhaften Szenen, die mit psychoanalytisch aufgeladenen Motiven kokettieren. Zuweilen etwas sperrig und zäh, aber immer unberechenbar entführt diese bedrückende Charakterstudie in die albtraumhaften (Un-)Orte der Großstadt.

Bernard (Lenn Kudrjawizki) verliert sich zunehmend in den schwarzen endlosen Weiten seines eigenen Unterbewusstseins. Borris Kehl
Bernard (Lenn Kudrjawizki) verliert sich zunehmend in den schwarzen endlosen Weiten seines eigenen Unterbewusstseins.

Bernard führt ein freudloses Leben – was sich auch direkt auf sein Umfeld auswirkt. Der Schriftsteller hat sich gerade eine Auszeit von seinem Beruf genommen, und seine emotional überforderte Freundin Agata (Sophie Mousel) von ihm. Er trifft seinen Vater Carlos (Michael Hanemann) regelmäßig zum Abendessen und sucht bei der anschließenden Übernachtung auch körperlich bei ihm nach Geborgenheit. Als Carlos eines Abends von einem Mann mit deformiertem Gesicht attackiert und wegen einer Kopfverletzung behandelt wird, werden die Ärzte auf einen Gehirntumor aufmerksam. Sein Sohn begegnet in dieser schwierigen Zeit unterdessen immer wieder einem Grashüpfer in Menschengröße…

Der aus Aserbaidschan stammende Filmemacher Elmar Imanov erzählte bereits in seinem in Baku gedrehten Filmdebüt „End Of Season“ ohne viele Worte und in zuweilen fordernden Einstellungen von Entfremdung. Diese formale Strenge bestimmt auch sein zweites Spielfilmprojekt, in dem er den Schauplatz in seine Heimatstadt Köln verlegt. Starre Kadrierungen und ein blau-graues Farbschema sind in der Aufarbeitung der eigenen Trauer über den Tod seines an Lungenkrebs verstorbenen Vaters die Regel. Auflockernde Schwenks oder Musikuntermalung in der Stille des Unausgesprochenen finden sich selten.

Schaf Fiete stiehlt allen die Show

Während einer haltlosen U-Bahn-Fahrt ins Nirgendwo der nächtlichen Stadt versuchen Bernard und Agata emotional, später auch körperlich noch einmal zueinanderzufinden – und scheitern dabei. Ein Redakteur, der Bernard zu einem neuen Text animiert, erhängt sich an einer Brücke über den Clarenbach-Kanal, über den ihn seine Joggingstrecke führt. Düstere Wolken der Depression hängen über den unterkühlten Bildern.

Aber auch Lichtstrahlen bahnen sich zwischendrin ihren Weg in diese verdüsterte (Kopf-)Welt. Besuche in einer Arztpraxis oder bei der Polizei sorgen schon aufgrund von Bernards sarkastischen Kommentaren für skurrilen Humor, der durch das Fiepen antiquierter Nadeldrucker und einer Reihe metaphorisch aufgeladener Cameo-Auftritte tierischer Co-Stars noch verstärkt wird: Das wiederkehrende Hintergrundrauschen von Dokumentationen über Dohlen und Wale im Fernsehen wirkt dabei weniger befremdlich als Bernards Zusammenleben und Kuscheln mit seinem Mitbewohner: dem fluffigen Schaf Fiete.

Kafka lässt grüßen: In einem derart surrealen Psychotrip ins eigene Unterbewusstsein darf ein menschengroßes Insekt natürlich nicht fehlen. Borris Kehl
Kafka lässt grüßen: In einem derart surrealen Psychotrip ins eigene Unterbewusstsein darf ein menschengroßes Insekt natürlich nicht fehlen.

Noch schräger ist ein Ausflug in einen Techno-Club, in dem Bernard zum periodischen Wummern der Beats und von den übrigen Partywütigen unbeachtet mit einem menschengroßen Grashüpfer knutscht. Das riesige Insekt, dem Autor Bernard mit „Grashoppers Dream“ (Kafkas „Die Verwandlung“ lässt grüßen) auch eine eigene Geschichte widmet, taucht bis zum Ableben von Carlos immer wieder auf. Einmal sitzt er sogar wie selbstverständlich am Tresen einer Bar, was natürlich sofort Erinnerungen an David Cronenbergs modernen Klassiker „Naked Lunch“ (1991) heraufbeschwört.

Mit Lenn Kudrjawizki („Babylon Berlin“) hat Elmar Imanov dabei einen Hauptdarsteller gefunden, der die Widersprüchlichkeit seiner stoisch-schroffen Figur zulässt, die zwar nicht über ihr Inneres reden und keine Gefühle zeigen kann, aber sich dennoch nach Trost und Nähe sehnt. Diese stumme Tragik durchzieht auch den Film: Ein emotionaler Zugang ist schwierig, während Metapher und Symbole zu (psychoanalytischen) Deutungen einladen. Und so bleibt „Der Kuss des Grashüpfers“ nach einer gewissen Zeit zum „Warmwerden“ bis zum Ende hin ebenso rätselhaft wie faszinierend, wenn Bernard mit einem selbstgebauten Apparat der (Lebens-)Realität endgültig entflieht.

Fazit: Anfangs wirkt „Der Kuss des Grashüpfers“ sperrig und unfreiwillig komisch. Doch mit zunehmender Laufzeit fällt das Eintauchen in diese düstere und surreale Albtraumwelt immer leichter. Ein vieldeutiger, unberechenbarer und faszinierender Film über psychische Abgründe.

Wir haben „Der Kuss des Grashüpfers“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er in der Sektion Forum gezeigt wurde.

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