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    Elementarteilchen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Elementarteilchen
    Von Lars Lachmann

    „O schöne neue Welt, die solche Bürger trägt“ – diese bekannte Zeile aus Shakespeares „Der Sturm“ war titelgebend für Aldous Huxleys dystopischen Roman „Schöne neue Welt“, welcher eine zukünftige Gesellschaft porträtiert, innerhalb der die menschliche Reproduktion nurmehr ausschließlich im Reagenzglas und nicht mehr auf natürlichem Wege stattfindet. Unter anderem geht damit eine absolute Trennung von Sexualität und Fortpflanzung einher, die für das Zusammenleben der Menschen innerhalb dieser Gesellschaft prägend ist. An diesen Punkt wiederum knüpft Michel Houellebecqs Roman „Elementarteilchen“ mit seiner provokativen These an, dass unser heutiger Umgang mit den Bereichen Sex und Partnerschaft einerseits, sowie Wissenschaft und Spiritualität andererseits, schon stark in eine solche Richtung weist, wie sie in Huxleys Zukunftsvision geschildert wird. Mit einem wahren Staraufgebot hat sich Oskar Roehler an die schwierige Aufgabe der Verfilmung von Houellebecqs Bestseller gemacht.

    Michael Djerzinski (Christian Ulmen) ist durch und durch Wissenschaftler. Vor einigen Jahren hat er sein Forschungsprojekt auf dem Gebiet der Biotechnologie in Irland abgebrochen, dessen Ergebnisse der kontrollierten Reproduktion und Manipulation von menschlichem Erbgut ungeahnte Möglichkeiten eröffnen würden. Der introvertierte Forscher kündigt seine Position als Leiter eines renommierten Instituts und erwägt eine Fortsetzung seines ehrgeizigen Projekts. Zuvor trifft er jedoch auf Annabelle (Franka Potente), mit der ihn seit frühester Kindheit eine enge Freundschaft verbunden hatte. Aus dieser hätte sich damals, wenn es nach ihr gegangen wäre, auch mehr als nur Freundschaft entwickeln können. Doch Michael, den mathematische Formeln und Gleichungen schon immer mehr interessiert haben als weibliche Reize, hat ihre Gefühle bisher nie erwidern können. Michaels Halbbruder Bruno Klement (Moritz Bleibtreu) ist dagegen extrem triebgesteuert. Ein Deutschlehrer, der sich an seinen jugendlichen Schülerinnen aufgeilt und sich mit nazistisch-kraftmeierischen Schreibversuchen als Autor versucht. Seine gescheiterte Ehe erträgt er nur noch im Suff, und nach einem Akt sexueller Nötigung an einer seiner Schülerinnen (Jennifer Ulrich) begibt er sich sogar freiwillig in psychiatrische Behandlung, um im Gespräch mit Dr. Schäfer (Corinna Harfouch) seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Nach dem Klinikaufenthalt lernt er in einem sehr freizügigen Esoterik-Camp die nicht minder vom Leben desillusionierte Christiane (Martina Gedeck) kennen. Die beiden lassen ihren sexuellen Phantasien in Swinger-Clubs freien Lauf und mit der Zeit entwickelt sich tatsächlich so etwas wie Liebe zwischen den beiden. Doch schon bald wird die Haltbarkeit ihrer ungewöhnlichen Beziehung auf eine harte Probe gestellt...

    Im Fokus der Handlung stehen die individuellen Schicksale der beiden ungleichen Protagonisten Michael und Bruno sowie, als ein wichtiger Teil dessen, deren jeweilige Beziehung zu Annabelle bzw. Christiane. Obwohl gerade diese den Zuschauer an vielen Stellen mit einer bemerkenswerten emotionalen Wucht erfassen, was einer sehr guten szenischen Arbeit mit durchweg guten Darstellern zu verdanken ist, bewegt sich die Inszenierung immer auch auf einer analytischen Ebene. Dies zeigt sich vor allem, wenn es um die Kindheitserlebnisse der beiden Halbbrüder geht, insbesondere deren Verhältnis zur gemeinsamen Mutter Jane (Nina Hoss). Diese gehört der Hippie-Generation der 68er an, zu deren Ideal der sexuellen Freizügigkeit sie sich bekennt und auch danach lebt – allerdings auf Kosten ihrer beiden Söhne, für die sie nicht einen Anflug von Verantwortungsbewusstsein verspürt. Michaels Schüchternheit und Brunos zynisch-reaktionäre Lebenshaltung lassen sich so jeweils als individueller Akt der Abwehr und Abgrenzung zum Lebensstil ihrer Mutter deuten. Interessanterweise ist es gerade dieser Geist der 68er, der sich nicht nur determinierend auf Michaels und Brunos Leben auswirkt, sondern gleichzeitig als erster Ausläufer jenes Gesellschaftsmodells in Huxleys „Schöner neuer Welt“ gelten kann.

    Ähnliches gilt übrigens für das Esoterik-Camp, das Bruno aufsucht. Das plakative Motto, welches im Eingangsbereich dieses „Ortes der Wandlung“ zu lesen ist, lautet: „Die Freiheit der anderen dehnt meine Freiheit ins Unendliche aus.“ Würde dieses Credo zu einem verbindlichen Grundsatz, wäre dieser gar nicht weit entfernt von einer Doktrin wie „Jeder ist seines Nächsten Eigentum“, welcher sich der totalitäre Staat in Huxleys Roman bedient, um zu festen emotionalen Bindungen zwischen zwei Menschen entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang soll deshalb nicht unerwähnt bleiben, dass einige Szenen, in welchen bekannte Klischees der 68er wie auch der New-Age-Bewegung auf boshafteste Weise (und nicht unverdient) der Lächerlichkeit preisgegeben werden, mit zum Erfrischendsten gehören, was der Film zu bieten hat.

    Um so tragischer, dass sich die beiden Brüder letztlich als Opfer ihrer selbst erweisen und wider Willen einen Pfad verfolgen, welcher sie der „Schönen neuen Welt“ immer näher bringt. So findet sich Bruno im New-Age-Camp mit eben jener Ideologie konfrontiert, die er im Grunde zutiefst verabscheut, welche er aber als Preis für das Ausleben seines Sexualtriebes in Kauf zu nehmen bereit ist. Auch Christiane ist vom Scheitern ihrer vorigen Beziehungen enttäuscht und sucht in erster Linie nur nach sexueller Erfüllung. Doch auch sie durchschaut die Oberflächlichkeit der Campbewohner und scheint sich deshalb für Bruno zunächst als ideale Partnerin zu erweisen.

    Michael entwickelt sich als Gegenreaktion auf die mütterliche Ideologie der Freizügigkeit zu einem asexuellen Jungen, der sich nicht von seiner Mutter in den Arm nehmen lassen will. Hieraus erklärt sich seine Vision von der Möglichkeit einer Fortpflanzung ohne Geschlechtsverkehr, dessen wissenschaftlicher Grundlegung er fortan sein Leben widmet. Doch auch er erhält durch die zweite Begegnung mit Annabelle zumindest die Chance, sein Leben in eine andere Richtung zu lenken und eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Als Gegenentwurf der verkorksten Beziehungsunfähigkeit seiner Protagonisten, die als Spiegel der heutigen Generation gesehen werden können, dient eine kurze Szene, in der Annabelle von der jahrelangen harmonischen Ehe ihrer Eltern spricht, die sich ein Leben lang treu geblieben sind – eine aussterbende Spezies?

    Oskar Roehler ist mit „Elementarteilchen“ ein provokatives und hochaktuelles Drama gelungen, das mit Sicherheit kontroverse Diskussionen auslösen wird. Dies gilt in gleichem Maße für die Fragestellungen und Thesen, die sich aus dem Inhalt ergeben, wie auch dessen mutige und zum Teil schockierende Inszenierung. Was die Umsetzung des Romanstoffes betrifft, ist Roehler zwar radikal, aber längst nicht so radikal wie Houellebecq, was die Wirkungskraft des Films jedoch keinesfalls schmälert. Einzig der Handlungsstrang, der sich mit Michaels wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt, weist kleine inhaltliche Schwächen auf, die vor allem zum Schluss bei einigen Zuschauern ein Gefühl der Unzufriedenheit hinterlassen könnten. Wären diese Aspekte etwas geschickter in die gesamte Handlung integriert worden, hätte dies zu einem in jeder Hinsicht brillanten Ergebnis führen können.

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