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    Anderland
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Anderland
    Von Carsten Baumgardt

    Jammern auf hohem Niveau. Diese Eigenschaft wird für gewöhnlich den Deutschen zugeordnet. Der Norweger Jens Lien betreibt dies nun ganz ungeniert im Kino. Denn auf den ersten Blick ist seine surreale Gesellschaftssatire „Anderland“ mitunter gar brillant und intelligent, mit einer ausgefeilten Bildkomposition durchzogen. Doch das täuscht nicht darüber hinweg, dass der Film gerade die unerbittliche Kälte ausstrahlt, gegen die Regisseur Lien inhaltlich so wettert.

    Inmitten einer unendlich erscheinenden Weite rauscht ein klappriger Bus über die staubige Piste. Ein verwirrt wirkender, mit einem zausseligen Bart bestückter Mann steigt aus. Andreas (Trond Fausa Aurvåg) ist sein Name. Viel mehr kriegt er an Erinnerung nicht zusammen. Er wird in eine Stadt gebracht, wo er seinen neuen Arbeitsplatz als Buchhalter zugewiesen bekommt. Alle sind ausgenommen freundlich, aber ebenso oberflächlich unverbindlich. Für alles ist gesorgt. Wohnung, Ausstattung, Job. Eine Freundin findet Andreas auch schnell. Neben Routine-Sex interessiert sich Anne-Britt (Petronella Barker) aber praktisch nur für Innendekoration, wie eigentlich alle Bewohner der Stadt. Doch bald wird Andreas das mechanische Geficke zu langweilig und er streckt seine Fühler nach seiner jungen Kollegin Ingeborg (Brigitte Larsen) aus. Auch hier hat er kein Problem, zu landen. Andreas ist verliebt. Er will alles für Ingeborg aufgeben, macht mit Anne-Britt Schluss, doch das Ergebnis dieser Verwicklung öffnet ihm schlagartig die Augen. Irgendetwas stimmt nicht. Wunden verheilen im Handumdrehen, selbst ein abgetrennter Finger stellt kein unüberwindliches Problem dar. Doch eines stinkt Andreas ganz gewaltig: Nichts hat mehr Geschmack. Und selbst der gute, alte Alkohol wirkt nicht mehr...

    Drehbuchautor Per Schreiner adaptierte mit „Anderland“ sein eigenes Hörspiel für die Kinoleinwand. Regisseur Jens Lien begibt sich auf die Spuren großer Vorbilder. Wie beispielsweise auf die eines David Lynch (Mulholland Drive, Inland Empire), lehnt sich an Werke wie Brazil oder „Delicatessen“ an, nimmt mit den spröde-schönen Landschaftsaufnahmen Bezug auf Wim Wenders (Paris, Texas). Und dennoch kann von Plagiaterie keine Rede sein. Lien bleibt immer eigenständig, arbeitet an seiner Vision einer Post-Mortem-Welt. „Anderland“ ist Satire. Gründlich sarkastisch, ja gar zynisch. Bissig und doch elegant, was sich vornehmlich in gestylten Bildern widerspiegelt. Dieser Szenerie entspringt nahezu zwangsläufig eine surreale Atmosphäre, deren Dichte man förmlich über die Leinwand wabern sehen kann.

    Zwischendrin streut Lien wie aus dem Nichts wenige, aber markige Splattereinlagen ein. Da wird mal ein Daumen von einer Papierschneidemaschine abgetrennt oder ein Büroangestellter landet nach seinem Flug aus dem Fenster aufgespießt auf einem Zaun – inklusive entweichender Gedärme. Das macht alles andere als Spaß, besonders die Daumensequenz ist äußerst unangenehm und Wirkung hinterlassend. Die allgemeine Frage nach dem „Was-soll-das-eigentlich-alles?“ klärt sich recht zügig. Andreas ist in einem jenseitigen Pseudo-Paradies gefangen, aus dem es nicht einmal per Selbstmord-Joker einen Ausweg gibt. Es regiert das von oben verordnete Gutmenschentum. Alle Sorgen sind genommen, das Glück ist vollkommen und dennoch ist Andreas todtraurig, weil er nicht in diese Welt, in der es keine Emotionen mehr gibt, hineinpasst. An dieser Stelle setzt Lien seine beißende Kritik an.

    Schauspielerisch lässt sich „Anderland“ nichts zu Schulden kommen. Der norwegische Mime Trond Fausa Aurvåg und seine beiden zentralen Beziehungspartner Petronella Barker und Brigitte Larsen sind sorgsam besetzt, vermitteln mit ihrem Theaterhintergrund exakt die spröde Ausstrahlung, die Regisseur Lien und Autor Schreiner verlangen. Einen nicht zu verhehlenden Pferdefuß hat dieses subtile Cinemascope-Kammerspiel aber: Wo ist die Trennlinie zwischen gediegener Filmkonstruktion und Langeweile? An dieser feinen Linie werden sich die Geister in den Zuschauerreihen scheiden. An der Hochklassigkeit der formalen Ebene gibt es keine Zweifel. Atmosphärische Bilder, ein ausgeklügeltes Tonkonzept (ein dumpfes Brummen dominiert im Hintergrund den Film), ein klare, unbequeme Botschaft... „Anderland“ bewegt etwas, Regisseur Lien hat sichtbar etwas drauf. Doch das verhindert nicht, dass sich die persönliche Qualität des Films daran messen lassen muss, ob der jeweilige Betrachter einen emotionalen Zugang in diese Welt der Emotionszombies findet - oder eben auch nicht. Das ist eine höchst subjektive Angelegenheit. Sicherlich hat Hauptfigur Andreas, dieser Querulant im Paradies, die Zuschauer grundsätzlich auf seiner Seite, aber er unterscheidet sich in seiner Emotionalität auch nicht dermaßen von der Masse, dass ihm die Sympathien im Sturm zufliegen. Am Ende wird’s eisig, aber ein Ziel ist erreicht. Die Welt des tristen Graus hat so etwas wie eine Emotion gezeigt... und gar dazu eine höchst garstige, die gegen sämtliche Prinzipen der schönen, neuen Welt verstößt.

    Was hat das jetzt mit „Jammern auf hohem Niveau“ zu tun? Regisseur Lien macht es sich recht einfach und kritisiert nicht den Ist-Zustand unserer modernen Gesellschaft, sondern den Quasi-Optimalzustand - ein stetes Streben nach dem höchsten Glück und dreht sich damit ein wenig im Kreis. Wenn man alles hat, wird es langweilig, prangert Lien unterschwellig an, geißelt die graue Normung einer neuen Erfüllungsgesellschaft, in der es nur noch eine Definition von Glück gibt. In der Gegenwart darf zumindest noch jeder für sich selbst entscheiden, was er benötigt, um glücklich zu sein. Oft sind es die Rückschläge auf dem Weg, etwas zu erreichen, die im Endeffekt den Reiz ausmachen und das Verwirklichen eines Zieles somit noch kostbarer machen. Wenn all dieser Widerstand wegfällt, so die Kritik, ist emotionale Ödnis die Folge. Aber ob Lien nicht mit der Vereinfachung hin zu dieser Glückseligkeit an der heutigen Gesellschaft vorbei kritisiert, ist zumindest fraglich.

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