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    Welcome
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Welcome
    Von Sascha Westphal

    „Welcome“ – Willkommen, das sind die aus den vielen politischen wie wirtschaftlichen Brennpunkten dieser Welt kommenden Asylsuchenden und Flüchtlinge nirgendwo in der Festung Europa. Die, die es unter größten Entbehrungen und aller Gefahren zum Trotz bis nach Italien oder England, Deutschland oder Frankreich schaffen, lernen sehr schnell, dass sie dort nicht erwünscht sind. Im besten Fall werden sie in diesen Ländern vielleicht geradeso geduldet. Aber selbst dann geben sich die westeuropäischen Staaten und ihre Organe noch die größte Mühe, ihnen das Leben so unerträglich wie nur eben möglich zu machen - und die meisten Europäer schauen sowieso einfach weg. Gegen dieses Wegschauen, diese Gleichgültigkeit im Angesicht einer zynischen Politik der Besitzstandswahrung, kämpft der französische Filmemacher Philippe Lioret („Die Frau des Leuchtturmwärters“, Keine Sorge, mir geht´s gut) mit seinem leisen, aber ungeheuer eindringlichen Flüchtlingsdrama „Welcome“ an. Er bezieht Stellung gegen ein menschenverachtendes System, ohne dabei auch nur für einen einzigen Moment in einen typischen Pamphlet-Ton abzurutschen. Die Verhältnisse an der nordfranzösischen Küste sprechen im Endeffekt für sich. Also konzentriert sich Lioret ganz auf seine Protagonisten, deren Entscheidungen, selbst die kleinsten unter ihnen, automatisch eine politische Dimension erhalten.

    In seiner Heimat im Norden Iraks hatte der 17-jährige Kurde Bilal (Firat Ayverdi) nie eine große Zukunft. Aber vielleicht wäre er wie seine Familie trotz allem dort geblieben. Doch dann hat Mina (Derya Ayverdi), die große Liebe seines Lebens, das Land verlassen und ist nach London ausgewandert, wo ihr Vater schon seit Jahren arbeitet. Also hat auch er sich auf den Weg in Richtung Großbritannien gemacht. Nach drei langen, beschwerlichen Monaten ist er nun in Calais angekommen. Nur noch der Ärmelkanal trennt ihn von dem Land seiner Hoffnungen und Träume. Doch der ist nahezu unüberwindlich. Nachdem sein erster Versuch, mit zahlreichen anderen Illegalen versteckt in einem Lkw nach England zu kommen, gescheitert ist, fasst er den riskanten Entschluss, den Kanal zu durchschwimmen. Also nimmt er in einem Schwimmbad Unterricht bei dem ehemaligen Wettkampfschwimmer Simon (Vincent Lindon, Hass – La Haine, Wenn wir zusammen sind). Der hat im Moment eigentlich seine eigenen Probleme und verhält sich zunächst extrem abweisend. Aber schon bald ist er so fasziniert von Bilals Ausdauer und Mut, dass er ihm auch außerhalb des Schwimmbads immer mehr hilft…

    Anders als in zahlreichen anderen europäischen Staaten werden illegale Einwanderer und Durchreisende in Frankreich eher selten in Auffanglager oder -Heime gesteckt. Wenn sie nicht gerade auffällig geworden sind und verhaftet wurden, überlässt der Staat sie mehr oder weniger ihrem Schicksal. Allerdings wurden Gesetze erlassen, die es Franzosen verbieten, Illegalen in irgendeiner Weise zu helfen. Geschäfte dürfen nichts an sie verkaufen und Privatpersonen ihnen weder Unterkunft noch sonstige Hilfe gewähren. Schon wer einen Flüchtling eine kurze Strecke in seinem Auto mitnimmt, macht sich strafbar. Gegen alle, die gegen diese Gesetze verstoßen, geht die Polizei von Calais mit aller Härte vor.

    Simon haben diese Gesetze nie weiter gestört. Schließlich hat er sich anders als seine Ex-Frau Marion (Audrey Dana, Chacun Son Cinéma), die mit anderen Aktivisten eine mobile Suppenküche für Flüchtlinge betreibt, auch nie für das Schicksal der Illegalen interessiert. Wie so viele andere wollte er immer nur seine Ruhe haben und sein eigenes Leben leben. Diese Gleichgültigkeit hat letztlich auch seine Ehe ruiniert und seine Welt in einen Scherbenhaufen verwandelt. Seine spontane Entscheidung, Bilal zu helfen, ist auch ein Versuch, diese Scherben wieder zu kitten. Politisches Handeln erwächst in „Welcome“ aus ganz und gar persönlichen Entscheidungen. Anders als seine Ex-Frau Marion geht es Simon nicht darum, die Gesellschaft und ihre Gesetze zu verändern. Er handelt einfach nach ethischen Prinzipien, die jenseits aller politischen und juristischen Erwägungen liegen.

    Die Freundschaft, die sich zwischen dem in einer Mid-Life-Crisis steckenden Schwimmlehrer und dem 17-jährigen Jungen aus dem Irak entwickelt, ist das Herz des Films. Alles andere speist sich aus ihr. Also nehmen sich Lioret und seine beiden grandiosen Hauptdarsteller alle Zeit, die sie brauchen, um diese ungewöhnliche Beziehung so glaubhaft und so natürlich wie nur möglich zu entwickeln. Firat Ayverdi strahlt eine ungeheure Naivität, aber auch eine fast schon obsessive Verbissenheit aus. Diese beiden Pole ergänzen sich perfekt. Schließlich ist sein Bilal zugleich ein Ideal und ein Anachronismus. Als großer Liebender, der sich von nichts und niemandem aufhalten lässt, hat er keinen Platz in dieser Welt, in der sich alles nur um Besitz und dessen Verteidigung und Vermehrung dreht.

    Ein derart naiver romantischer Held, der beinahe ein moderner Widergänger Parzivals sein könnte, muss einfach zu einer tragischen Figur werden. Aber Bilals reiner Idealismus hat trotz allem eine ansteckende Wirkung. Selbst der vollkommen verbitterte und zutiefst enttäuschte Simon, der beruflich in einer Sackgasse steckt und privat einfach nicht über die Trennung von Marion hinwegkommt, kann sich ihrer nicht erwehren. Seine Verwandlung ist wie ein langsames Auftauen, bis Vincent Lindon schließlich regelrecht Feuer zu fangen scheint. Die Art, in der sich Aufbegehren und Resignation, Idealismus und Fatalismus in seinem Spiel die Waage halten, wird zu einem politischen Statement. Sein rein individualistisches Handeln mag zum Scheitern verurteilt sein. Aber ein Aktivismus, dem dieses bis zur Selbstzerstörung gehende Engagement fehlt, wird letztlich auch ohne Chancen auf Erfolg bleiben. Dieses Dilemma löst Philippe Lioret konsequenterweise auch nicht auf. Jedes Lösungsangebot hätte etwas Beschwichtigendes. Aber Lioret will weder beruhigen noch bevormunden. Er breitet das Perfide genauso wie das Tragische der Verhältnisse vor den Augen des Betrachters aus. Wie der darauf reagiert, kann nur eine Entscheidung sein, die ihm kein Film und auch kein Filmemacher abnehmen kann.

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